Sonntag, 19. Februar 2012

Kurzkritik: "Hard Candy"

Markant fies und perfide ist, dass der Regisseur den elementarsten Charakterisierungskern (Gut-Böse) zwecks moralischem Orientierungschaos ebenso berechnend vorenthält wie sein gnadenloser Teenieracheengel eiskalt einen mutmaßlichen Pädophilen bearbeitet. Identifikation ist selbst als vehemente Bestrebung nur labiler Natur, denn nie wird preisgegeben, was mit zunehmender Laufzeit, zunehmenden Schweißausbrüchen, zunehmenden Schmerzensschreien wirklich interessiert. Beruhigtes Zurücklehnen? Forget it! Diese Prämisse macht "Hard Candy" zu einem schwindelerregenden Psychothrillereignis und einem furchtbar cleveren Rachemonstrum. Die Ungewissheit (Foltert das kindliche Opfer den verabscheuungswürdigen Triebtäter oder liegt hier ein kollossaler Irrtum vor?) stößt weitaus desaströser vor den Kopf als der Quälungsakt an sich, der -so viel sei gesagt- zur Genüge weh tut. Man möchte den Blick trotz aller Erniedrigung keine Sekunde abwenden, um ja nicht die eine Szene zu verpassen. Die erklärt, dass hier der Richtige misshandelt wird. Auf den einen Kameraschwenk, der den hilflos gefesselten Mann endlich als Bestie entlarvt. 

Beide Hauptdarsteller spielen, als gebe es kein Morgen mehr. Ellen Page verkörpert den unerbittlichen Selbstjustizdrang mit einer verstörenden Radikalität. Ihren ungeheuren Zorn kanalisiert sie in haarsträubender Unbarmherzigkeit als mädchenhaftes Revengegirl, selbstgefällige Bemerkungen, höhnisch und gleichermaßen ehrlich. Und doch sieht man den jungen Modefotografen, der sämtlichen Vorurteilen des klassischen Kinderschänders widerspricht, der höllisch leidet und mit Nachdruck beteuert, er sei unschuldig. Es ist einerseits der urteilsfreien Regie zu verdanken, andererseits ganz entscheidend dem grenzgenialen Patrick Wilson, dass ich mehr als nur einmal auf seiner Seite stand. Eine massiv bestürzende Entwicklung, wenn man bedenkt, dass es bei einem Internetchat begonnen hat (wo man trotz aller interpretierbaren Schweinereien dennoch das Wörtchen "harmlos" hören wollte). "Hard Candy" ist gezielt provokant, aber es ist nicht so, dass David Slade nichts zu sagen hätte. Internetbekanntschaften bleiben bei aller gefühlten Intimität das, was sie sind: Virtuell. Die Botschaft ist schon genial. Wer die Glaubwürdigkeit anzweifelt (Klassiker: Wie könnte ein 14 jähriges Mädchen einen erwachsenen Mann überwältigen und mehr?), dem sagt Slade direkt ins Gesicht: WISSEN tust du überhaupt nichts. 


7.5 / 10 

Autor: seven

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