Mittwoch, 8. Juni 2016

Erfahrung im Moment - Kritik: La religieuse portugaise (2009)



Eugène Greens Werk über eine junge französische Schauspielerin, die in Lissabon weilt um einen portugiesischen Briefroman aus dem 17. Jahrhundert über einen verliebte Nonne zu drehen, hypnotisiert durch seinen formalen Rigorismus. Ein unglaublich schöner und poetischer Film, der zum Ausgangspunkt die Stadt Lissabon nimmt: Er beginnt mit mehreren Einstellungen der Stadt, zeigt einmal einen Hinterhof, einmal die Innenstadt mit ihren stark ansteigenden Gassen, einmal ein Panorama. Die Geschichte scheint nun aus dieser Stadt zu entstehen, sich uns zu präsentieren; als wir nach etwa 5 Minuten die Protagonistin zum ersten Mal sehen, zeigt man sie uns nicht in Grossaufnahme, sondern extrem weit von der Kamera entfernt, wie sie aus einem Auto in ein Hotel steigt. Diesen Moment könnten wir jedoch beinahe verpassen, da uns das Bild einlädt, unsere Augen über andere Gebäude der Stadt schweifen zu lassen:


Auch im weiteren Verlauf diktiert die Stadt die Geschichte; Begegnungen zwischen der Protagonistin und der Stadt sowie deren Einwohnern sind das narrative Gerüst des Films, treiben ihn und die Protagonistin an und pointieren ihre philosophische Reise, ein Odyssee durch die Stadt mit dem Ziel, einen inneren Frieden zu finden.

Die Bildkadrierungen sind oft ungewöhnlich. Wie bei Bresson wird der Raum zumeist konstruiert, nicht analysiert (dazu gibt es auf vimeo ein Video von David Bordwell: „Constructive editing“). Das heisst: wir sehen nicht zu Beginn jeder Szene Totalen oder Halbtotalen, welche uns einen Überblick über das Geschehen und den Raum, in welchem dieses stattfindet, verschafft. Sondern uns werden nur verschiedene einzelne „Schnispel“ des Raums gezeigt; der eigentliche Raum entsteht in unserem Kopf. Wir wissen nicht, wie weit Darsteller voneinander entfernt sind. Was wir sehen, ist eine kanalisierte Jetzt-Erfahrung, ein Detail: Füsse, Hände, ein halbes Fenster, eine Autotüre.



Besonders deutlich wird das in den zwei musikalischen Einlagen des Films; die Protagonistin trifft bei Streifzügen durch die Stadt auf Strassensänger, die Einsamkeit und Liebe besingen. Das hat eigentlich etwas Surreales, doch wir sehen nicht, wo, in welchem Rahmen, gesungen wird, ob Leute zuhören, oder wie weit die Musiker von der Protagonistin entfernt sind: wir sehen nur Grossaufnahmen des Sängers und der Schauspielerin; es scheint, als schauten sie sich gegenseitig an, und der Schnitt bringt sie einander nah. In diesem Sinne wird der Film hier impressionistisch, sensuell. Was zählt, ist nicht das Abbild der Natur, sondern die Erfahrung im Moment. (Das erinnert mich ein bisschen an Claire Denis‘ „Vendredi soir“.

Die Dialoge sind äusserst stilisiert, sowohl ihr Text als auch dessen Präsentation; die Schauspieler spielen ohne melodramatische Effekte, sprechen langsam, fallen einander nie ins Wort, sondern lassen im Gegenteil immer eine gewisse Zeit verstreichen, bis sie auf ihr Gegenüber antworten. Wir sehen im Bild immer nur die gerade sprechende Person, nie beide zusammen. Oft, und das wirkt zu Beginn äusserst frappierend, starren die Schauspieler direkt in die Kamera, welche sich frontal vor ihren Gesichtern befindet; und die angesprochenen „Pausen“ lassen der Kamera quasi Zeit, sich um 180° zu drehen (so der Eindruck). Im Endeffekt wirken die Dialogszenen wie Gedichte:



Auch die vielen symmetrische Bildkompositionen will ich noch erwähnen, mit ihrem Gespür für Texturen und Vorder- und Hintergrundfarben. Zeigt eine Einstellung mehrere Personen, so wird erhält jede Person einen distinkten Hintergrund, der mit der Farbe ihrer Kleidung korrespondiert. Das reiche Spiel mit Lichtern im Hintergrund besticht ebenfalls. Einmal etwa sehen wir nur die Hände zweier Personen, die miteinander anstossen, im Hintergrund unscharf die Lichter der Stadt. Als die Hände aus dem Bild sind, fokussiert die Kamera diese Lichter, die Stadt bewegt sich vom Abstrakten zum Konkreten, und das Gespräch setzt sich fort, ohne dass wir die Sprecher zu Gesicht bekommen:





8 / 10

Autor: Cameron

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