Mittwoch, 23. November 2016

Aus dem Leben eines Jungen, auf der Suche nach Liebe - Kritik: Der Junge mit dem Fahrrad (2011)


Es ist wirklich ein kleiner Film der Dardenne-Brüder, den die sie hier gemacht haben, aber in dem trotzdem so viel steckt. Es ist ein Film über Menschlichkeit. Es ist gleichwohl ihr kürzester Film bis dato als auch ihr optimistischster. Es ist ein kurzer Film über den Jungen (Thomas Doret) mit dem Fahrrad, der von der Suche nach Geborgenheit berichtet, der Suche nach einer Familie, einer Person, die ihn halten kann. Wieder bleiben sie dicht an ihrem Protagonisten, diesem schätzungsweise elfjährigen Jungen und damit auch jüngsten Protagonisten ihres bisherigen Schaffens, der die Flucht aus dem Kinderheim ergreift, um seinen Vater zu suchen, von dem er verlassen wurde und der ihm sein Fahrrad wiedergeben soll. Sie heften sich an seine Fersen und beschreiben seinen durchaus steinigen Weg, bei dem die Dardennes aber stets Hoffnung auf Glück durchstrahlen lassen. Ihr Werk ist wie ein kurzer realitätsnaher Ausschnitt aus dem Leben des Jungen. Eine Frau (Cécile de France), von Beruf Friseurin, tritt durch Zufall (oder durch Bestimmung?) in sein Leben, die sich dem Jungen annimmt, vielleicht in dem Bewusstsein, dass, wenn sie es nicht tun würde, es sonst niemand tun würde. Er ist ein temperamentvoller Junge, der seinen eigenen Kopf und viel Ausdauer hat. Ein bissiger und kämpferischer Junge, der sein Eigentum verteidigt wie ein Pitbull. Ein impulsiver, aufgeweckter und robuster Rabauke. Ein kleiner Wüterich, aber dahinter auch ein gutherziger Junge. Ein Junge, dessen Seele spürbar ist und den die Dardennes mit einer markanten roten Farbe, die für seine Impulsivität stehen könnte, belegen bei seiner Kleidung. Zum Großteil trägt er eine rote Jacke mit einem weißen Streifen oder ein rotes T-Shirt.


 Die Dardennes gewinnen der Realität, die sie in klaren und oftmals hellen Bildern darstellen eine beinahe schon magisch-lebendige Seite ab. Sie lassen Licht in diese Welt, die sie in ihren anderen Film oftmals so herb und so kühl bebilderten. Natürlich dokumentieren sie diese kleine Geschichte immer noch nüchtern, aber in ihrem Blick steckt so eine bestimmte Zuversicht, die sich auch den Bilder wiederfindet. In ihnen liegt so eine gewisse Wärme. Die Dardennes schildern diese Geschichte empathisch und behutsam. Sie zeigen auch hier ihr bedächtiges Feingefühl bei ihrem Umgang mit ihrer Geschichte und vor allem mit ihren Figuren, die es schließlich sind, die ihre Geschichten antreiben. Sie lassen ihren Charakteren dieses Mal mehr Raum im Bild, wechseln zwischen nahen Einstellungen und Totalen und setzen dabei meist auf lange Einstellungen. Es ist ein offener Stil, offen für alles. Dabei könnte man die erste Hälfte des Films als Odyssee des Jungen nach seinem verschwundenen Vater (Jérémie Renier) umschreiben, der zwischen verschiedenen Orten (einer Bar, bei der Olivier Gourmet seinen neutorischen Gastauftritt bei den Dardennes hinlegen darf, einer Bäckerei und einer Autowerkstatt) pendelt mit seinem Fahrrad (das weckt Assoziationen zum jungen Renier und seinem Moped in »La Promesse« von den Dardennes), um diesen zu finden, der lange ein gehütetes Geheimnis der Dardennes bleibt (wie etwa Morgan Marinne in »Der Sohn«?).



Die Dardennes verschließen sich dabei aber auch wieder nicht vor der manchmal bitteren oder tristen Realität, in der es zu aktiven Konfrontationen kommt, ein Vater seinen Sohn auf Distanz halten möchte, weil er ein neues Leben beginnen möchte, unter Stress steht und er mit diesem überfordert wäre oder (falsche) Freunde einen zu kriminellen Handlungen anstiften. Diese Dinge geben dem Film Bodenhaftung, der sich auf eine kleine Siedlung als Schauplatz beschränkt. Es gibt auch eine musikalische Untermalung, wie erstmals in ihrem vorherigen Film. Es ist eine kurze und irgendwie engelhaft erscheinende Melodie, die den Film immer nur ganz kurz durchzieht. Und da ist da noch dieses geradezu metaphysische Ende, das wie eine Wiederauferstehung erscheint, bei dem auch irgendwie ein bisschen Francois Truffaut durchschimmert, der einst seine Bewunderung über die Überlebensfähigkeit der Kinder und ihren ungebrochenen Willen aussprach. Ist die Liebe also stärker als der Tod? Es ist ein optimistischer Blick, den die Dardennes auf dieses offene Ende haben. Und bei diesem aufregend-lebensnahen Film wünscht sich dann gar, dass man noch ein bisschen länger hätte verweilen können. Doch der Film ist zu Ende, das Leben in ihm geht trotzdem einfach weiter.



8.0 / 10

Autor: Hoffman 

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