Xiao Wu, Jia Zhangkes erster Langfilm, ist eine Charakterstudie, die
ihren Protagonisten gleichzeitig als Sinnbild für die trost- und
perspektivenlose Situation des Landes nimmt. Ein Film wie er seither wohl oft
an Festivals zu sehen ist; Menschen am Rande der Gesellschaft, denen es unmöglich
ist, mit dieser ins Reine zu kommen, wie es der zutiefst pessimistische Schluss
von Xiao Wu (so auch der Name des Protagonisten) verdeutlicht.
Xiao Wu ist ein Taschendieb, und der Film ist in mehrere (aber nicht
klar abgetrennte) Episoden aufgeteilt, die alle mehr oder weniger übel enden. Nach
der Rückkehr in seinen Heimatort (nach welchem Zeitraum ist völlig unklar)
erlangt ihn die Nachricht von einem bevorstehenden, grossangelegten Heiratsfest
eines ehemals guten Freundes / Komparsen; Xiao Wu ist allerdings nicht
eingeladen. Denn sein Freund hat es zu einem angesehenen Händler gebracht;
dessen Vergangenheit, der Xiao Wu angehört, soll möglichst vergessen werden,
die Gäste nicht daran erinnert. Gleichzeitig mit dem Freund hat sich auch die
Stadt und das gesellschaftliche Leben verändert, Fortschritt hält Einzug;
schärfere Gesetze gegen Kriminelle werden in den Strassen verkündet; alte
Geschäfte müssen umziehen, Häuser und Quartiere werden zerstört um Neuem,
Besserem Platz zu machen. Auf dieses Neue warte man dann aber vergeblich, sagt
einmal eine Figur. Xiao Wus Umfeld rät ihm, mit der Veränderung Schritt zu
halten, ebenfalls Händler oder Kaufmann zu werden, wie Xiao Yong, der ehemalige
Freund. „Ich habe nicht seinen Kopf“, meint Xiao Wu nur.
Die zweite, besonders gelungene Episode handelt von seiner Beziehung
zu einer Prostiuierten, Meimei, die er irgendwie lieb gewinnt (trotz grosser
Unterschiede), die er während einer Krankheit pflegt, die ihn dann aber wortlos
verlässt und mit anderen Klienten zusammen verschwindet. In der dritten Episode
besucht er seine Eltern, Bauern ausserhalb der Stadt. Auch eine Schwester und
zwei Brüder finden sich dort ein, eine davon heiratet eine vermögendere Frau
aus Peking; der Vater verlangt von allen Kindern 5000 Yen als Mitgift; es kommt
zum Zerwürfnis, Xiao Wu verlässt seine Familie, und soll sich ja nie mehr
blicken lassen, ruft ihm der Vater nach. In der abschliessenden Episode wird
Xiao Wu schliesslich bei einem kleinen Diebstahl gefangengenommen und von einem
Polizisten scheinbar unvorsichtigerweise auf der Strasse, an einen Pfahl
gekettet, „vergessen“ – woraufhin sich alle Passanten um ihn versammeln, voll
Hass in ihren Augen.
Eine wichtige Rolle durch den ganzen Film hindurch spielt das
Lokalfernsehen (die Anzahl der Fernsehgeräte wuchs in China ab den 80er-Jahren rasant an, ein Zeichen des Wandels). Xiao Yong wird interviewt, Meimei singt zu einem gezeigten
Musikvideo, Xiao Wu lernt später ebenfalls dadurch, mitzusingen, und gegen Ende
sehen wir einen News-Flash über seine Verhaftung mit Interviews der darüber
frohen Bürger der Stadt. Repräsentation ist dauerhaft präsent, verstärkt aber
nur das Gefühl von Verlorenheit, Unangepasstheit, Un-Zugehörigkeit; Xiao Wu
wird verstossen von Freund, Liebe und Familie, und am Ende vom Recht und der
Gesellschaft im Allgemeinen. Er kommt mit dem Umschwung des Landes nicht mit; mit der Modernisation, der Oeffnung gegenüber dem Ausland etc; wer sich nicht sofort, wie sein ehemaliger Freund, der veränderten Lage anpasst, ist automatisch ein Verlierer.
Im Vergleich zu Jias nächstem Film (und breakthrough) Platform wirkt Xiao Wu weniger "elaboriert", spontaner. Was in Platform auffällt kommt allerdings schon hier etwas zum Tragen: wie Jia jede der z.T. langen Einstellungen bis ins letzte ausnützt, um Informationen auf verschiedenen Ebenen zu vermitteln; einerseits als kleine narrative Sketches (allerdings immer ohne Drama, was, wie Jia in einem Interview erklärt, auf die chinesische Art und Weise zurückgeht, mit Konflikt umzugehen), andererseits als historisch-soziologisches Setting (hier packt er unglaublich viel in den Hintergrund oder die Ecken des Bildes, und besonders auch auf die Tonspur, durch Radio oder Fernsehen, durch Ansagen über Lautsprecher, und durch nicht im Bild zu sehende Personen), sowie als rein dem Charakter gewidmete kleine Studien / Beobachtungen.
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Autor: Cameron
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