Freitag, 27. Mai 2016

Portrait einer zerrütteten Familie - Kritik: Louder Than Bombs

Bereits die erste Einstellung zeugt nicht vom Tod, sondern zeigt die Hand eines Neugeborenen. Jonah (so gut wie noch nie: Jesse Eisenberg) ist der Vater, der orientierungslos durch die Flure des Krankenhauses zieht, um etwas Verpflegung für seine von der Geburt sichtlich erschöpften Frau zu finden. Überfordert lehnt er sich rücklings an die Wand. Der Titel wird eingeblendet. "Louder Than Bombs" dürfte als eigentlich als Albumname der britischen Rockband The Smiths bekannt sein, in Joachim Trier 3. Langfilm bezeichnet er keine lautstarken verbalen Auseinandersetzungen. Eher lässt sich zu den aufwallenden Emotionen der Familie Reed in Relation setzen. In dieser ist Jonah der deutlich ältere von zwei Söhnen, angehender Dozent für Soziologie, und hat schon eine seigene Familie gegründet. Sein schizoider Bruder Conrad (unfassbar: Devin Druid) verbringt seine Zeit lieber indes mit Videospielen und klugen Beobachtungen. Ihr Vater (Gabriel Byrne) ist dabei, mit Conrads Lehrerin heimlich eine Beziehung zu führen, die aufgrund ihrer Geheimniskrämerei bereits vorab zum Scheitern verurteilt scheint. Eigentlich eine gar nicht so unübliche Familienkonstellation in der heutigen Zeit, wäre da nicht die Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren. So wird Conrad nach der Schule von seinem Vater verfolgt, damit dieser etwas über das Privatleben seines Sohnes in Erfahrung bringen kann. Erst später wird enthüllt, dass Conrad sich der regelmäßigen Aktionen seinens Vaters bewusst ist und so bricht er demonstrativ zur Verwirrung offenbar motivationslos an einem völlig zufälligen Grab zusammen. Der Grund für die Schwierigkeiten in der Familie liegt drei Jahre zurück: Damals starb die Mutter Isabelle Reed (Isabelle Huppert), eine berühmte Fotografin, die hauptsächlich in umkämpften Kriegsgebieten tätig war, während eines Autounfalls. Dass es sich jedoch nur allem Anschein nach um einen banalen Unfall handelt, offenbart sich schnell. Während sich Jonah und sein Vater der Depressionen Isabelles bewusst waren, weiß Conrad davon nichts, lediglich einige Anzeichen dürfte er erkannt haben. In Wahrheit handelt es sich demnach um Suizid, doch eben diese Wahrheit stellt Jonah in Frage: "The truth? What is the truth?"


Mit einer einfachen Antwort ist es bei einer Sinnsuche nun einmal nicht getan. Gibt es überhaupt eine objektive Wahrheit, die alles erklärt? Nicht selten wandelt Joachim Trier mit seinem ersten internationalen FIlm auf den Pfaden Antoinionis: Beispielsweise entdeckt Jonah ein entscheidendes Detil auf einer alten Fotografie seiner Mutter, das ihn fortan beschäftigt oder wird der Autounfall in Slow-Motion (bis zur Erstarrung) in mehreren möglichen Ablaufweisen gezeigt. Dies geschieht entscheidenderweise aus Conrads Sicht, ohne dass er sich für eine Variante entscheidet. Die Erinnerungen an die abwesende Mutter werden kaleidoskopartig verwebt. Alle Familienmitglieder haben ihre eigenen Vorstellungen von der Frau, die sich nicht notwendiger decken oder widersprechen. Eine Wahrheitsfindung erscheint hier von vorneweg sinnlos, können doch nur die subjektiven Sichtweisen wiedergegeben werden. Selbst die flüchtigen Momente, in denen Isabelle völlig allein auftritt, sind letztlich nur Vorstellungen der Verbliebenen. Alles andere wäre auch nicht rekonstruierbar. Der mancherorts als Kritikpunkt des Films verstandene "male gaze" ist meines Erachtens nicht gerechtfertigt: Wie die Männer der Familie die Frauen behandeln, setzt sich ja unübersehbar in weiteren Liebschaften fort: Jonah geht trotz der Geburt seinen Sohnes fremd und sein Vater verspielt sich seine neue Beziehung, indem er Conrad nichts davon wissen lässt. Jonah erinnert in manchen Punkten nicht nur zufällig an seine Mutter, ob er irgendwann selbst in den Abgrund gerät, wird offen gelassen. Hierbei handelt es sich auch um eine der interessantesten Entwicklungen der Figuren. Wirkt Jonah zu Beginn noch wie der erfolgreiche Karrierist und angehende Patriarch, der alles unter Kontrolle hat und den Nachlass seiner Mutter regeln will, so zerbricht er immer mehr, weil er sich nicht von der Vergangenheit lösen kann. Dem entgegen steht Conrad, der als Einzelgänger mit bisweilen soziopathischen Zügen eingeführt wird, nur um aus dem chauvinistischen Teufelskreis der Familie ("If I had a girlfriend, I would never lie to her") erst mit Versprechungen und darauf folgend einer herrlichen Naivität auszubrechen. Einer der großartigsten Sequenzen in Triers Standortverlagerung von Oslo nach New York ist ein Essay Conrads, das zu Tangerine Dreams "Love on a Real Train" atemberaubend bebildert wird. Dieses legt er einem Mädchen vor die Tür, um trotz seiner Schüchternheit mit ihr kommunizieren zu können. Später gewinnt er notwendigerweise an Reife, wenn das Resultat nich seinen Hoffnungen entspricht. In diesem Jugendlichen steckt so viel unerwartete Tiefe. Die Coming-of-Age-Momente stellen mit die schönsten Augenblicke in einem an memorablen Momenten reichhaltigen Werk dar, das leider bislang viel zu unbeachtet blieb.

                                                                        9/10
 Autor: DeDavid

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