Bekannt als einer von Fords
lyrischsten Filmen; als ein Film, bei dem er seine Vision vollumfänglich
umsetzen konnte. „Fords cinema, like all great cinema, is a cinema of
reaction“, sagt Ford-Spezialist Tag Gallagher. Und tatsächlich, was mir
in seinen Filmen immer wieder auffällt, sind Menschen in
Halbnahaufnahme, deren Blick irgendeinen Punkt im Off, gleich
hinter/neben der Kamera fixieren. Dabei ist der Bildhintergrund meist
expressiv komponiert; diagonale oder gerade Linien in warmer
Beleuchtung, so dass dieser Blick ausreicht, um Gänsehaut hervorzurufen
(und wie Sternberg sagte: alles was im Bildhintergrund einer Person zu
sehen ist, muss etwas zu ihr hinzufügen, ohne die Aufmerksamkeit auf
sich selbst zu ziehen). Meist wird dieser reaction shot bei Ford vor der
Ursache gezeigt: Wir sehen zunächst die Wirkung einer Sache auf
Menschen, dann erst, durch Montage, deren Grund.
Ein Beispiel, das mir besonders einfährt: gegen Ende von Stagecoach;
die Prostituierte Dallas, verliebt in Ringo, wartet verängstigt auf den
Ausgang eines Duells von Ringo und Gangstern. Hinter ihr, das
Rotlichtmilieu der Stadt, in Murnau-Sternberg-Manier extrem expressiv
ausgeleuchtet. Schüsse sind gefallen, sie schaut ins Off um zu erkennen,
ob Ringo überlebt hat und zu ihr zurückkehrt. Die Kamera fährt langsam
auf sie zu, Schritte sind zu hören. Die Spannung im Bild, emotionale
Spannung, ist nicht zu überbieten. Dann tritt Ringo aus dem Off ins
Bild, Erlösung. (Hier wird also der Schnitt auf die Ursache nicht
durchgeführt, da er nicht nötig ist).
In Wagon Master nun fällt die Ursache einer Reaktion oft ganz weg.
Es gibt so viele Aufnahmen von Gesichtern wie sonst in kaum einem Film.
Die Kamera dokumentiert nur. Es bildet sich eine Gemeinschaft, community
(das Fordsche Lieblingsthema, zurecht: denn was ist das Leben anderes
als ein ewiges flüchtiges, unsicheres, flexibles Sich-Bilden und
Sich-Auflösen von unterschiedlich grossen Gesellschaften?); Wege führen
unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Motivationen
zusammen. Man halte sich einmal vor Augen: Viehtreiber, Mormonen,
Banditen, Indianer, eine Schauspieltruppe, Polizisten: sie alle führt
das Schicksal zusammen, sie alle schliessen sich jeweils vorübergehend
an; sechs eigenständige Mini-Gemeinschaften, die sich zu einer einzigen,
grundsätzlich friedlichen (!) Gross-Gemeinschaft zusammenfinden. Diese
Gross-Gemeinschaft befindet sich auf Reise ins „gelobte Land“ (für die
Mormonen), doch gilt: der Weg ist das Ziel, und die Reise, die Bewegung
ist als Metapher für den ewigen Fluss des Lebens zu sehen (wie bei
Renoirs „The River“). Mal von allem abgesehen ist das ein wunderbares
Plädoyer für Toleranz.
Von all diesen Menschen gibt uns Ford nun Close-ups ihrer Gesichter,
die deshalb so poetisch-lyrisch anmuten, weil Ford oft ein Gesicht an
das nächste montiert, und weil diese reaction shots keine unmittelbare
Verbindung zur (sowieso kaum vorhandenen) Handlung aufweisen. Sie
könnten für sich stehen, als Portraitfotografien, oder an irgendeinem
anderen Punkt in den Film geschnitten werden.
Dieser Einsatz von Close-ups auf Gesichter ist manchmal besonders
originell, gar experimentell. Beispiel: als die Banditen (Familie
Clegg) auf den Reisezug treffen, sehen wir sowohl Close-ups auf die
bisherigen Mitglieder der Reisegemeinschaft, wie auf die Mitglieder der
Familie Clegg. Als letztes dieser Close-up-Serie sehen wir den
Familienvater, Shiloh Clegg. Doch wie sich im Nachhinein herausstellt,
ist nun zwischen dem vorletztem Close-up auf dieses letzte Close-up Zeit
vergangen. Eine Ellipse; was völlig weggelassen wurde, ist, wie die
Banditen von den übrigen Menschen aufgenommen worden sind. Beim letzten
Close-up sind sie nämlich bereits in die Gemeinschaft integriert. Das,
was bei anderen Filmen Stoff für Handlung gegeben hätte, ein Konflikt,
interessiert Ford nicht.
Ein ähnliches Unterhöhlen der Erwartungen findet sich in einer
anderen Szene gegen Ende von Stagecoach. Hier wird aber nicht Zeit
übersprungen, sondern Raum, und wieder ereignet sich dies bei der
Konfrontation von Banditen mit Anderen, in diesem Falle John Wayne als
Ringo. Kurz bevor es zum shoot-out kommt streifen Banditen und Held in
der Stadt (die in „Film-noir-Beleuchtung getaucht ist) umher, um sich
gegenseitig aufzulauern, ein bisschen wie am Ende von „Heat“. Die drei
Banditen bleiben im Bildvordergrund stehen, fixieren einen Punkt in der
Ferne. Nun: Schnitt: wir sehen eine leere Strasse, auf die im
Bildhintergrund plötzlich ein Schatten geworfen wird, jemand geht dort
umher. Wir glauben, dass es sich gewissermassen um die Antwort der
vorhergehenden Einstellung handelt: Das ist es, was die drei Banditen
sehen, es muss John Wayne sein. Doch einige Augenblicke später:
Überraschung – es ist nicht Wayne, sondern einer der Banditen, von einer
anderen Perspektive. Wayne kommt erst danach im extremen
Bildvordergrund zum Vorschein (übrigens ein tolles Bild mit so irrem
deep-focus wie bei Citizen Kane).
Dieses Untergraben von Erwartungen, sei es in der Zeit (Wagon
Master) oder im Raum (Stagecoach) findet man übrigens in ähnlicher Form
dann in „Chronik der Anna Magdalena Bach“; kein Wunder, dass
Straub-Huillet so grosse Ford-Fans waren.
Der charakteristische dokumentarische und gleichzeitig
lyrisch-poetische Charakter des Films, durch die vielen Close-ups auf
Gesichter hervorgerufen, wird unterstützt durch weitere nur
beschreibende Einstellungen ohne direkte dramaturgische Funktion, die
oft repetiert werden, z.Bsp. von Pferden und Kutschen, die eine Böschung
hinaufkraspeln. Ausserdem sind die Szenenübergänge oft überraschend;
genau wie bei der ersten Konfrontation der Cleggs mit dem „Rest“ werden
Szenen manchmal angefangen aber mitten im Höhepunkt abgebrochen, es
folgt eine Überblendung auf eine Landschaftsaufnahme. So stehen wichtige
Szenen wie ein Fragezeichen im Raum.
Ein Wort noch zur Musik: „Wagon Master“ wird als der Film betrachtet,
mit dem Ford einem Musical am Nächstem kam. Besonders erwähnenswert
scheint mir, dass selbst Szenen grosser potentieller Bedrohung (dem
ersten Auftritt der Banditen oder der „Meuterei“ derselben“) nicht in
klischeehafte „Bedrohungs-Musik“ getaucht ist, auch nicht in düstere
Fanfaren, wie beim Erscheinen von Indianern in anderen Filmen, sondern
die Musikuntermalung sich weich, melancholisch, süsslich, lyrisch gibt
und so einen Kontrapunkt zum Geschehen setzt; bei Ford äusserst selten.
Als relativiere sie die Bedrohung angesichts der überwältigenden Kraft
dieser Menschen, zu einer Gemeinschaft zu verschmelzen. Denn „Wagon
Master“ ist ein optimistischer Film.
++
Autor: Cameron
Bekannt als einer von Fords lyrischsten Filmen; als ein Film, bei dem er seine Vision vollumfänglich umsetzen konnte. „Fords cinema, like all great cinema, is a cinema of reaction“, sagt Ford-Spezialist Tag Gallagher. Und tatsächlich, was mir in seinen Filmen immer wieder auffällt, sind Menschen in Halbnahaufnahme, deren Blick irgendeinen Punkt im Off, gleich hinter/neben der Kamera fixieren. Dabei ist der Bildhintergrund meist expressiv komponiert; diagonale oder gerade Linien in warmer Beleuchtung, so dass dieser Blick ausreicht, um Gänsehaut hervorzurufen (und wie Sternberg sagte: alles was im Bildhintergrund einer Person zu sehen ist, muss etwas zu ihr hinzufügen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu ziehen). Meist wird dieser reaction shot bei Ford vor der Ursache gezeigt: Wir sehen zunächst die Wirkung einer Sache auf Menschen, dann erst, durch Montage, deren Grund.
Ein Beispiel, das mir besonders einfährt: gegen Ende von Stagecoach; die Prostituierte Dallas, verliebt in Ringo, wartet verängstigt auf den Ausgang eines Duells von Ringo und Gangstern. Hinter ihr, das Rotlichtmilieu der Stadt, in Murnau-Sternberg-Manier extrem expressiv ausgeleuchtet. Schüsse sind gefallen, sie schaut ins Off um zu erkennen, ob Ringo überlebt hat und zu ihr zurückkehrt. Die Kamera fährt langsam auf sie zu, Schritte sind zu hören. Die Spannung im Bild, emotionale Spannung, ist nicht zu überbieten. Dann tritt Ringo aus dem Off ins Bild, Erlösung. (Hier wird also der Schnitt auf die Ursache nicht durchgeführt, da er nicht nötig ist).
In Wagon Master nun fällt die Ursache einer Reaktion oft ganz weg. Es gibt so viele Aufnahmen von Gesichtern wie sonst in kaum einem Film. Die Kamera dokumentiert nur. Es bildet sich eine Gemeinschaft, community (das Fordsche Lieblingsthema, zurecht: denn was ist das Leben anderes als ein ewiges flüchtiges, unsicheres, flexibles Sich-Bilden und Sich-Auflösen von unterschiedlich grossen Gesellschaften?); Wege führen unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Motivationen zusammen. Man halte sich einmal vor Augen: Viehtreiber, Mormonen, Banditen, Indianer, eine Schauspieltruppe, Polizisten: sie alle führt das Schicksal zusammen, sie alle schliessen sich jeweils vorübergehend an; sechs eigenständige Mini-Gemeinschaften, die sich zu einer einzigen, grundsätzlich friedlichen (!) Gross-Gemeinschaft zusammenfinden. Diese Gross-Gemeinschaft befindet sich auf Reise ins „gelobte Land“ (für die Mormonen), doch gilt: der Weg ist das Ziel, und die Reise, die Bewegung ist als Metapher für den ewigen Fluss des Lebens zu sehen (wie bei Renoirs „The River“). Mal von allem abgesehen ist das ein wunderbares Plädoyer für Toleranz.
Von all diesen Menschen gibt uns Ford nun Close-ups ihrer Gesichter, die deshalb so poetisch-lyrisch anmuten, weil Ford oft ein Gesicht an das nächste montiert, und weil diese reaction shots keine unmittelbare Verbindung zur (sowieso kaum vorhandenen) Handlung aufweisen. Sie könnten für sich stehen, als Portraitfotografien, oder an irgendeinem anderen Punkt in den Film geschnitten werden.
Dieser Einsatz von Close-ups auf Gesichter ist manchmal besonders originell, gar experimentell. Beispiel: als die Banditen (Familie Clegg) auf den Reisezug treffen, sehen wir sowohl Close-ups auf die bisherigen Mitglieder der Reisegemeinschaft, wie auf die Mitglieder der Familie Clegg. Als letztes dieser Close-up-Serie sehen wir den Familienvater, Shiloh Clegg. Doch wie sich im Nachhinein herausstellt, ist nun zwischen dem vorletztem Close-up auf dieses letzte Close-up Zeit vergangen. Eine Ellipse; was völlig weggelassen wurde, ist, wie die Banditen von den übrigen Menschen aufgenommen worden sind. Beim letzten Close-up sind sie nämlich bereits in die Gemeinschaft integriert. Das, was bei anderen Filmen Stoff für Handlung gegeben hätte, ein Konflikt, interessiert Ford nicht.
Ein ähnliches Unterhöhlen der Erwartungen findet sich in einer anderen Szene gegen Ende von Stagecoach. Hier wird aber nicht Zeit übersprungen, sondern Raum, und wieder ereignet sich dies bei der Konfrontation von Banditen mit Anderen, in diesem Falle John Wayne als Ringo. Kurz bevor es zum shoot-out kommt streifen Banditen und Held in der Stadt (die in „Film-noir-Beleuchtung getaucht ist) umher, um sich gegenseitig aufzulauern, ein bisschen wie am Ende von „Heat“. Die drei Banditen bleiben im Bildvordergrund stehen, fixieren einen Punkt in der Ferne. Nun: Schnitt: wir sehen eine leere Strasse, auf die im Bildhintergrund plötzlich ein Schatten geworfen wird, jemand geht dort umher. Wir glauben, dass es sich gewissermassen um die Antwort der vorhergehenden Einstellung handelt: Das ist es, was die drei Banditen sehen, es muss John Wayne sein. Doch einige Augenblicke später: Überraschung – es ist nicht Wayne, sondern einer der Banditen, von einer anderen Perspektive. Wayne kommt erst danach im extremen Bildvordergrund zum Vorschein (übrigens ein tolles Bild mit so irrem deep-focus wie bei Citizen Kane).
Dieses Untergraben von Erwartungen, sei es in der Zeit (Wagon Master) oder im Raum (Stagecoach) findet man übrigens in ähnlicher Form dann in „Chronik der Anna Magdalena Bach“; kein Wunder, dass Straub-Huillet so grosse Ford-Fans waren.
Der charakteristische dokumentarische und gleichzeitig lyrisch-poetische Charakter des Films, durch die vielen Close-ups auf Gesichter hervorgerufen, wird unterstützt durch weitere nur beschreibende Einstellungen ohne direkte dramaturgische Funktion, die oft repetiert werden, z.Bsp. von Pferden und Kutschen, die eine Böschung hinaufkraspeln. Ausserdem sind die Szenenübergänge oft überraschend; genau wie bei der ersten Konfrontation der Cleggs mit dem „Rest“ werden Szenen manchmal angefangen aber mitten im Höhepunkt abgebrochen, es folgt eine Überblendung auf eine Landschaftsaufnahme. So stehen wichtige Szenen wie ein Fragezeichen im Raum.
Ein Wort noch zur Musik: „Wagon Master“ wird als der Film betrachtet, mit dem Ford einem Musical am Nächstem kam. Besonders erwähnenswert scheint mir, dass selbst Szenen grosser potentieller Bedrohung (dem ersten Auftritt der Banditen oder der „Meuterei“ derselben“) nicht in klischeehafte „Bedrohungs-Musik“ getaucht ist, auch nicht in düstere Fanfaren, wie beim Erscheinen von Indianern in anderen Filmen, sondern die Musikuntermalung sich weich, melancholisch, süsslich, lyrisch gibt und so einen Kontrapunkt zum Geschehen setzt; bei Ford äusserst selten. Als relativiere sie die Bedrohung angesichts der überwältigenden Kraft dieser Menschen, zu einer Gemeinschaft zu verschmelzen. Denn „Wagon Master“ ist ein optimistischer Film.