Mittwoch, 7. Juni 2017
Die Kunst der Schlusseinstellung - Kritik: Housekeeping (1987)
Vorneweg sei gesagt: Billy Forsyths HOUSEKEEPING ist erschreckend unbekannt. Das ist in diesem Fall besonders schade, denn es handelt sich um ein - bei aller Entwertung des Begriffs muss ich ihn einfach gebrauchen - Meisterwerk. Die Romanadaption nach dem gleichnamigen Werk von Marilynne Robinson ist in den bekanntlich biederen 1950ern in der Provinz der USA angesiedelt und erzählt von zwei jungen Schwestern, die von ihrer Mutter aus New York zu ihrer Großmutter in die verschlafene Kleinstadt Fingerbone gebracht werden. Der Aufenthalt gestaltet sich länger als gedacht, als die Mutter mit ihrem Wagen (mit Unterstützung von nichtsahnenden Kindern!) im örtlichen See verschwindet. Was sie genau zum Suizid bewegt hat, wird man nicht mehr in Erfahrung bringen können. Möglicherweise übte der ohnehin gespenstische See eine morbide Anziehungskraft auf sie aus. Jedenfalls werden die beiden Mädchen, Ruth und Lucille vorerst von ihrer (leicht überforderten) Oma erzogen. Nachdem auch sie verstirbt, wird ihre bis dato fremde Tante Sylvie (Christine Lahti) zur Erziehung der beiden nach Fingebone beordert. Sie ist für eine Brechung der bisherigen Dynamiken verantwortlich, ist entgegen der gesellschaftlichen Konvention weder verheiratet noch selbst Mutter und auch sonst reichlich seltsam. Beispielsweise schläft sie tagsüber auf irgendwelchen Parkbänken oder wandert orientierungslos auf der, den See überquerenden, Brücke entlang. Es wirkt wie ein Meisterstück, dass die Figur bei all den merkwürdigen Charakterzügen nicht überzeichnet gerät. Nach anfänglichen Irritationen überwiegt die Zuneigung zur ungewöhnlichen Verwandten. So passt es sehr gut, dass der Vormund auch gar keine Probleme mit dem regelmäßigen Schwänzen der beiden Mädchen hat, die sich lieber im Umkreis des Sees herumtreiben statt innerhalb des Bildungssystems. Was kommen da für persönliche Erinnerungen hoch, hach!
Diese Idylle, die auch nicht von gelegentlichen Überschwemmungen gestört werden kann (der Tanz in den Wassermassen des Hauses ist wunderbar entrückt), zeigt sich erst durch aufkeimende Wünsche nach Gleichaltrigen von Lucille bedroht. Es naht ein Bruch der Schwestern, durch den Lucille sich von der bisherigen Isolation entfernt (indem sie sich sogar anderweitig adoptieren lässt), während Ruth sich mehr und mehr ihrer Tante annähert. Zudem drohen die Behörden durchzugreifen, nachdem Sylvies Fähigkeiten als Erziehungsberechtigte in Frage gestellt werden. Es bleibt nur noch die Flucht, wenn sie und Ruth nicht auseinander gerissen werden wollen. Bis zur nahezu alles übertreffenden letzten Einstellung, in der die Figuren den Bahnschienen folgen, ehe sie von der Dunkelheit der Nacht vollends verschluckt werden, zeichnet Housekeeping ein einnehmendes Bild von Außenseitern der damaligen (und strenggenommen auch jetzigen) Zeit. Es sind die Ablehnung der verbreiteten Werte oder schlichtweg einfach soziales Unbehagen (fast schon beängstigend überzeugend von Sarah Walker dargestellt, die hiernach bedauerlicherweise keine weiteren relevanten Rollen mehr hatte), das die Figuren dazu treibt. Der deutsche Zusatztitel "- Das Auge des Sees" ist eigentlich gar nicht mal so verkehrt, wenn die Rolle des Sees als eingreifende Entität betrachtet wird. Nicht nur nahm er das Leben der Mutter und tritt beizeiten über die Ufer, was die Isolation der Figuren nur verstärkt, sondern ist darüber hinaus ein beständiger Ort der Faszination, auf dessen Grund ein Zug bis in alle Ewigkeit seine Runden ziehen soll und mit Ruths und Sylvies (illegaler) Bootstour einen besonders tollen Moment zeigt. Letztlich stellt er mitsamt seiner Brücke das einzige Verbindungsglied zur Flucht dar. Selten kam ein Coming-of-Age-Film derart sanft daher und taucht so tief in seine introvertierten Figuren ein. Vielleicht ist Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW ein entfernter Verwandter, der mich ähnlich beeindrucken konnte, dennoch bleibt HOUSEKEEPING ohne Vergleich.
9/10
Autor: DeDavid
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