Still Life von Jia Zhangke folgt zwei Protagonisten, einem Mann und einer Frau mittleren Alters, die
Fremde sind in ihrer Umgebung, hierhergekommen zwecks einer Suche nach ihren
jeweiligen ehemaligen Lebenspartner; diese Umgebung ist aber im Begriffe einer
riesigen Veränderung, deren Zeugen die Protagonisten nun werden: Ein Damm wird
gebaut, das Wasserniveau erhöht, unzählige Häuser überschwemmt. Wie immer bei
Jia stellt diese Veränderung den Kern des Films dar; auch in Xiao Wu, Platform
und Unknown Pleasures haben wir Ruinen und Baustellen gesehen. Hier ist das
Ausmass allerdings erheblich grösser; das ganze Filmset eine Baustelle, ähnlich
vielleicht wie im Vorgängerfilm The World ein Attraktionspark den gesamten Film
einnimmt (auch dort führt uns eine kurze aber wichtige Szene an eine Baustelle
am Rande des Parks). Gewalt ist in diesem Film omnipräsent, auch wenn sie nie
explizit zu sehen ist, sondern sich ganz nebensächlich bemerkbar macht;
Arbeiter laufen mit einem Kopfverband herum, andern fehlt ein Arm, einmal wird
ein toter Arbeiter unter einem zusammengebrochenen Haus entdeckt. Korruption
und Einschüchterung mündet ebenfalls in Gewalttätigkeiten, von denen wir hören.
Die Baustelle ist kein leichtes Umfeld für die Menschen, doch anderswo ist es nicht
unbedingt besser: Als der Protagonist Han Sanming seinen Mitarbeitern erzählt,
in seiner Region gäbe es unzählige Kohlegruben, und diese Arbeit sei besser
bezahlt, fügt er auch an: Die Arbeit ist noch gefährlicher, wer in den Berg
gehe, wisse nicht, ob er wieder herauskomme. Kehrseite des ökonomischen
Wunders.
Wie es bei
Raoul Walsh heisst, im Hintergrund des Bildes geschehe so viel, dass dies einen
eigenen Film verdient hätte, so gilt mindestens dasselbe bei Jia Zhangke. Am
Eindrücklichsten zeigen das mehrere Szenen, bei denen wir den oder die
Protagonisten im Vordergrund sehen, manchmal in ein Gespräch verwickelt,
während im Hintergrund ein Haus gesprengt wird und in sich zusammensackt.
Diese
Ruinenstadt, die für bizarre, surreale Ansichten herhält (immer wieder Löcher
in der Mauer), wird derart schön, „modisch“ in Szene gesetzt, dass sie die
immer wieder geführte Diskussion von der Ästhetisierung des Elends aufflammen
lässt; wie Walter Benjamin in „Der Autor als Produzent“ fordert, ist dies nur
zuzulassen, wenn der Autor gleichzeitig den Produktionsapparat zugunsten der
Armen verändert. Hierauf will ich nicht näher eingehen, da schon viel über das
Verhältnis Jias zum chinesischen Staat geschrieben worden ist. Die
Hauptpersonen werden stets in Beziehung gesetzt zu ihrem Umfeld. Immer wieder
zeigen Jias Blick, die langsame, sich stetig bewegende Kamera, und sein
aufmerksames Ohr (das Knattern der Motorboote), Personen, alltägliches Leben
inmitten dieser surrealen Veränderung (das absurde Element wird, genau wie in
The World, noch überhöht durch Ufos, Gebäude, die sich plötzlich in die Höhe
fliegen, als Gegenpol zum ständigen Demolieren und Abreissen, sowie durch einen
Seiltänzer zwischen den Ruinen). Die beiden Hauptpersonen, die wir nie
verlassen, werden unweigerlich Zeuge davon, auch von den Streitigkeiten
zwischen Anwohner und Funktionären, Arbeitern und Fabrikdirektoren. Aber
ausserirdische Elemente kommen nicht nur innerhalb des Films vor: auch der
Kamerablick hat etwas völlig Distanziertes, ein bisschen wie in Niklas
Geyrhalters Homo Sapiens. Das Zusammenspiel von Mensch und demoliertem Umfeld
lässt uns immer wieder von Neuem staunen; eine sanfte Kamerabewegung lässt uns
erst die Dimensionen erkennen.
Wie in allen
vorangegangenen Filmen des Regisseurs spielt Populärkultur eine wichtige Rolle;
sie gibt Halt im Umbruch. In einer berückenden Szene spielen sich zwei Arbeiter
gegenseitig ihren Handy-Klingelton vor (ironischerweise führt dieser Klingelton
später zum Auffinden des einen, toten Arbeiters unter einem Schutthaufen).
Überall läuft der Fernseher; Manieren, die Art, sich eine Zigarette anzuzünden,
werden imitiert; und immer wieder wird gesungen, von Liebe und Frühling.
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Autor: Cameron
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