Mittwoch, 8. August 2018

Kehrseite des ökonomischen Wunders - Kritik: Still Life (2006)


Still Life von Jia Zhangke folgt zwei Protagonisten, einem Mann und einer Frau mittleren Alters, die Fremde sind in ihrer Umgebung, hierhergekommen zwecks einer Suche nach ihren jeweiligen ehemaligen Lebenspartner; diese Umgebung ist aber im Begriffe einer riesigen Veränderung, deren Zeugen die Protagonisten nun werden: Ein Damm wird gebaut, das Wasserniveau erhöht, unzählige Häuser überschwemmt. Wie immer bei Jia stellt diese Veränderung den Kern des Films dar; auch in Xiao Wu, Platform und Unknown Pleasures haben wir Ruinen und Baustellen gesehen. Hier ist das Ausmass allerdings erheblich grösser; das ganze Filmset eine Baustelle, ähnlich vielleicht wie im Vorgängerfilm The World ein Attraktionspark den gesamten Film einnimmt (auch dort führt uns eine kurze aber wichtige Szene an eine Baustelle am Rande des Parks). Gewalt ist in diesem Film omnipräsent, auch wenn sie nie explizit zu sehen ist, sondern sich ganz nebensächlich bemerkbar macht; Arbeiter laufen mit einem Kopfverband herum, andern fehlt ein Arm, einmal wird ein toter Arbeiter unter einem zusammengebrochenen Haus entdeckt. Korruption und Einschüchterung mündet ebenfalls in Gewalttätigkeiten, von denen wir hören. Die Baustelle ist kein leichtes Umfeld für die Menschen, doch anderswo ist es nicht unbedingt besser: Als der Protagonist Han Sanming seinen Mitarbeitern erzählt, in seiner Region gäbe es unzählige Kohlegruben, und diese Arbeit sei besser bezahlt, fügt er auch an: Die Arbeit ist noch gefährlicher, wer in den Berg gehe, wisse nicht, ob er wieder herauskomme. Kehrseite des ökonomischen Wunders.


Wie es bei Raoul Walsh heisst, im Hintergrund des Bildes geschehe so viel, dass dies einen eigenen Film verdient hätte, so gilt mindestens dasselbe bei Jia Zhangke. Am Eindrücklichsten zeigen das mehrere Szenen, bei denen wir den oder die Protagonisten im Vordergrund sehen, manchmal in ein Gespräch verwickelt, während im Hintergrund ein Haus gesprengt wird und in sich zusammensackt. 


Diese Ruinenstadt, die für bizarre, surreale Ansichten herhält (immer wieder Löcher in der Mauer), wird derart schön, „modisch“ in Szene gesetzt, dass sie die immer wieder geführte Diskussion von der Ästhetisierung des Elends aufflammen lässt; wie Walter Benjamin in „Der Autor als Produzent“ fordert, ist dies nur zuzulassen, wenn der Autor gleichzeitig den Produktionsapparat zugunsten der Armen verändert. Hierauf will ich nicht näher eingehen, da schon viel über das Verhältnis Jias zum chinesischen Staat geschrieben worden ist. Die Hauptpersonen werden stets in Beziehung gesetzt zu ihrem Umfeld. Immer wieder zeigen Jias Blick, die langsame, sich stetig bewegende Kamera, und sein aufmerksames Ohr (das Knattern der Motorboote), Personen, alltägliches Leben inmitten dieser surrealen Veränderung (das absurde Element wird, genau wie in The World, noch überhöht durch Ufos, Gebäude, die sich plötzlich in die Höhe fliegen, als Gegenpol zum ständigen Demolieren und Abreissen, sowie durch einen Seiltänzer zwischen den Ruinen). Die beiden Hauptpersonen, die wir nie verlassen, werden unweigerlich Zeuge davon, auch von den Streitigkeiten zwischen Anwohner und Funktionären, Arbeitern und Fabrikdirektoren. Aber ausserirdische Elemente kommen nicht nur innerhalb des Films vor: auch der Kamerablick hat etwas völlig Distanziertes, ein bisschen wie in Niklas Geyrhalters Homo Sapiens. Das Zusammenspiel von Mensch und demoliertem Umfeld lässt uns immer wieder von Neuem staunen; eine sanfte Kamerabewegung lässt uns erst die Dimensionen erkennen.


Wie in allen vorangegangenen Filmen des Regisseurs spielt Populärkultur eine wichtige Rolle; sie gibt Halt im Umbruch. In einer berückenden Szene spielen sich zwei Arbeiter gegenseitig ihren Handy-Klingelton vor (ironischerweise führt dieser Klingelton später zum Auffinden des einen, toten Arbeiters unter einem Schutthaufen). Überall läuft der Fernseher; Manieren, die Art, sich eine Zigarette anzuzünden, werden imitiert; und immer wieder wird gesungen, von Liebe und Frühling.


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Autor: Cameron

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