Es gibt
Filme wie Chantal Akermans "Je tu il elle", nach denen man sich denkt: Dies ist die
einzige legitime Art, einen Film zu machen. Jeder andere gesehene Film
erscheint nicht länger relevant, geradezu lächerlich, der Mühe nicht wert.
Dieser Film
besitzt eine unglaubliche Universalität. Sich ihn anzusehen, benötigt keinerlei
Vorkenntnisse ausser der Erfahrung des Menschseins. Dies ist normalerweise kaum
je der Fall; selbst einem noch so simplen Film liegt eine Vorgeschichte
zugrunde, diejenige eines Landes, seiner Bewohner, die ergo auf soziale
Schicht, Milieu, Rituale, Ethik, auch Charakter etc. der handelnden Personen
sich auswirkt, ihr Tun bestimmt. Solch ein Film sucht Gründe zu finden für das
Handeln der Menschen, die ausserhalb ihrer liegen; was treibt sie an, wie lenkt
ihr Schicksal ihren Lebensweg? Ein idealer Zuschauer sollte diese Vorgeschichte
in allen Details kennen; andernfalls entgehen ihm Informationen, die für das
Verständnis des Gezeigten eine Rolle spielen. Diese „Vorgeschichte“ kann auch
auf einer Meta-Ebene wirken: ein Film, der sich an anderen Filmen orientiert,
oder bewusst nicht orientiert; und hat ein Zuschauer vor diesem Film einen
bestimmten anderen Film gesehen, dann erscheint ihm Ersterer in völlig anderem
Licht, als wenn dies nicht der Fall wäre. Am wenigsten weisen gewisse Avantgarde-Filme (z.Bsp. abstrakte) eine „Vorgeschichte“ auf, obschon sich auch
viele Avantgarde-Werke auf bereits existierende Kunstwerke berufen.
Deshalb
überrascht es vielleicht nicht, dass Akermans Filme vor „Je tu il elle“ sich
quasi in einer avantgardistischen Tradition verorten lassen können, oder
zumindest stark davon beeinflusst sind (Akerman nennt Michael Snows „La région
centrale“ als Film, von dem sie ein Gespür für filmische Raum-Zeit erlernt
habe). „La chambre“ und „Hotel Monterey“ (beide 1972) erforschen den
menschengeschaffenen Raum, und dadurch auch den Menschen, der in ihnen waltet,
obwohl er in diesen Filmen beinahe abwesend ist. In „Je tu il elle“ rückt er in
den Mittelpunkt, wobei: Er ist auch der einzige Punkt, um ihn herum ist nichts.
Was wir
sehen: eine junge Frau (Akerman selbst), allein in einem winzigen Zimmer. Aus
dieser Prämisse entwächst der Film; wir wissen nichts über die Frau, und müssen
auch gar nichts über sie wissen. Der Film, den wir sehen, ist in jeder
Bildkomposition, jedem Schnitt, der einzige Film, so scheint es, der aus dieser
Situation heraus ohne „Vorgeschichte“ entstehen kann. Dieser Film mag
befremdend anmuten, dringt aber gleichzeitig zum Kern der Menschenseele, des
Seins vor. Die Frau im Zimmer macht nichts – was soll sie auch tun? Nicht nur
ist sie keinen externen Antrieben und Verpflichtungen (der Vorgeschichte)
ausgesetzt; auch innerlich ist sie sozusagen dem „Trägheitsgesetz“
untergeordnet. Und aus diesem Nichts entspringen dann doch automatisch gewisse
Dinge; sie spielt mit ihrem Atem (vergisst dieses Spiel aber mit der Zeit und
macht wieder nichts – so erzählt sie aus dem Off); sie schiebt ihre wenigen
Möbel umher und schliesslich ganz aus dem Zimmer; sie betrachtet sich selbst,
manchmal nackt, manchmal nicht; sie isst, doch was?: einen Sack Zucker,
löffelweise, stösst den Sack um und gibt den Inhalt mühsam wieder zurück. Und
sie schreibt Briefe, unendliche, an wen ist unklar… vielleicht an niemanden.
Dies entsteht im Film nach und nach, langsam; aber eigentlich war es immer
schon da. Wir legen nur eine Schicht nach der anderen frei, erkennen es. Auch
die Sehnsucht nach Sexuellem wird so freigelegt und überträgt sich dann auf den
weiteren Verlauf des Films. Die Wirkung des Films ist so stark, dass ich
eigentlich nicht über ihn schreiben sollte, es fehlt die Distanz. Sich selbst
erkennen – ist es das, die Aufgabe der Kunst? Zweifelsohne ist die Wirkung
eines Kunstwerks auf den Betrachter immer dann ausserordentlich kräftig, wenn
er das Gefühl hat, etwas von seinem Wesen sei hier dargestellt – gewissermassen
ein Spiegel, der ihm vorgehalten wird. Der Künstler und der Rezipient liegen
dann auf einer Linie; jedoch macht man es sich so auch zu einfach, da wir dazu
tendieren, alles so zu deuten, dass es uns am meisten entspricht. Wir wollen
uns immer selbst sehen, und verlieren so die Welt aus den Augen, verbeissen uns
vielleicht in einem Detail und vergewaltigen das Kunstwerk. Wenn wir auf der
Leinwand eine Person sehen, mit der wir uns stark identifizieren können, und
dann weinen, weil es ihr schlecht geht, und weil wir uns in sie
hineinprojizieren – dies ist, was Pedro Costa in einem Vortrag als „Fastfood“
bezeichnet hat.
– Dies am
Rande. Akerman schafft etwas Distanz, indem sie im Off das zu Sehende
kommentiert. Manchmal (selten) korrespondiert die Stimme mit dem Bild; manchmal
hören wir etwas, lange bevor oder nachdem wir es sehen, manchmal scheinen sich
Ton und Bild zu widersprechen, resp: wir wissen nicht, ob das, was wir hören,
irgendwann stattfindet (aber nicht im Film), oder überhaupt nie, und wir wissen
nicht, ob wir Ton oder Bild mehr trauen sollen.
Irgendwann
stösst die Frau im Zimmer die Fenstertüre auf und verlässt den Raum, ohne sie
zu schliessen. Und wie die Frau verlässt auch der Film das Zimmer; er öffnet
sich, hebt ab, schwebt dahin. Nie mehr werden wir in dieses Zimmer
zurückkehren. Es folgen zwei auch sexuelle Begegnungen, mit einem der Frau
fremden Mann (im zweiten Teil) und einer ihr bereits bekannten anderen Frau
(dritter Teil). Die Chronologie der drei Teile bleibt offen; zwar erscheint es
durch das Öffnen der Türe zum Schluss des ersten Teils und dem darauffolgenden
Schauplatzwechsel nach draussen als logisch, der zweite Teil folge dem ersten,
handfeste Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Auch der dritte Teil muss
nicht unbedingt zu Ende der Chronologie stehen; der Film beginnt mit der Stimme
Akermans, die sagt: „und so ging ich weg“; wir sehen jedoch erst jeweils als
Ende des ersten und des dritten Teils ein Weggehen, wohingegen sie zu Beginn
ruhig im Zimmer sitzt.
Die
Bildkompositionen sind in einer Weise beschaffen, die man gemeinhin als „Poetik
des Alltäglichen“ abtut: Den gewöhnlichsten, uns wohlbekanntesten Dingen,
Gegenständen und „settings“ (Fenster, Wcs, Cafés) werden atemberaubende,
expressive, ästhetisierte Schwarz-Weiss-Ansichten abgewonnen. Aber es sind die einzigen
Bildkompositionen, die sich aus einem zugleich intensiv erlebten und zermürbend
öden Alltag ergeben können. Diese alltäglichen Dinge werden uns neu bewusst
gemacht, als würden wir sie zum ersten Mal sehen. Akermans Blick ist immer
geprägt von dieser Neugierde, den Dingen „auf den Grund zu gehen“; eben nicht
nur den Personen, sondern auch Gegenständen oder ganzen Zimmern. Die
Einstellungen werden solange gehalten, wie wir diese Dinge, würden wir sie zum
ersten Mal sehen, im echten Leben ansehen würden; genug Zeit, um alles zu
absorbieren, aber keineswegs überlange.
Im zweiten Teil gibt es einige
Einstellungen, in der sich die Frau und der Mann, ein Lastwagenfahrer, der von
Zeit zu Zeit Pausen benötigt, in Kneippen gegenüber- oder nebeneinander sitzen.
Sie sprechen kein Wort, sind alleine mit sich beschäftigt, und reagieren
dennoch auf die Präsenz des anderen; mit Körpersprache, mit ganz kurzen
Blicken. Diese Einstellungen werden sehr lange gehalten, doch habe ich
überhaupt kein Problem damit, gehören sie doch zu den schönsten Szenen des
Films, denen man wirklich ewig zuschauen könnte. Es gibt kaum etwas
Spannenderes, als zwei Menschen zuzusehen, die nonverbal interagieren. Auch
deshalb ist der Film universell – diese Szenen lassen Dialoge in anderen Filmen
überflüssig, unnötig, geradezu wahrer Spannung und Erfahrung abträglich zu
sein. Auch sonst wird in „Je tu il elle“ beinahe gar nicht gesprochen,
abgesehen von einem Monolog des Lastwagenfahrers und der nur zu Beginn und auch
da äusserst spärlich eingesetzten Off-Stimme Akermans. Die auf der Leinwand zu
sehende Akerman spricht kaum je.
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