Sehen heisst Angst haben in diesem Film von Fritz Lang. Sehen ist unweigerlich verbunden mit negativen Werten, mit Furcht, Zweifel, Unsicherheit, auch mit Nacht. Natürlich ist The Woman in the Window kein Horrorfilm, zumindest nicht oberflächlich. Aber es gilt: Was auch immer die Kamera einfängt, um dies müssen wir bangen. Der Film zwingt uns, hinzuschauen, auf Situationen, von denen wir froh wären, wenn wir sie nicht sehen müssen, auch wenn gerade darin ihre Brillanz liegt. Nachdem die von Edward G. Robinson gespielte Hauptfigur, mit der wir uns sofort identifizieren, in Notwehr zu einem Mord gezwungen wurde, versucht sie, die Leiche loszuwerden. Wir hoffen, dass es ihm gelingt, dass ihn niemand sieht. Wenn wir diesem Unterfangen also zuschauen, ist dies verbunden mit der Furcht, dass er auffliegt. Was immer wir sehen, es könnte etwas geschehen, es droht die Gefahr. Was wir nicht sehen, was die Kamera nicht zeigt, davon geht keine Gefahr aus. Wir wissen, dass uns etwas nur gezeigt wird, weil ein Problem für den Protagonisten entstehen könnte; nur dann ist es würdig, präsentiert zu werden. Ein Nachbar, dem Robinson begegnet, einem Polizisten, einem Wärter… Die Intensität wird noch dadurch gesteigert, dass fast in jeder Szene zu Beginn eine Uhr auftaucht, vielleicht am extremen Bildrand, vielleicht prominent in der Mitte. Die „Sprünge“ in der Zeit markieren diejenigen ungesehenen Episoden, in denen nichts passiert ist, und die wir nicht gesehen haben.
Auch nachdem sich der Leiche entledigt wurde, werden wir gezwungen
mitanzusehen, wie Robinson immer tiefer in einen Strudel gerät; wie er sich
durch kleine unüberlegte Äusserungen in Gefahr bringt, sich verdächtig macht.
Sehen ist nur mit Niederlage verbunden; es gibt kein Gewinnen. Im bestmöglichen
Fall schöpft die Polizei nur einen geringen Verdacht. Aber zwingend kommen sie
irgendwann, die Worte oder Taten, die Robinson in den Abgrund stürzen. Das
Insistieren der Kamera muss sie zum Vorschein bringen. So scheint es.
Die Schere, schon in Langs Vorgängerfilm Ministry of Fear eine
prominente Requisite, die dort bedrohlich von Duryea in der Hand gehalten
wurde, wird dann erst in The Woman in the Window zum effektiven Mordinstrument.
Auch das Muster an der Wand im Heim der falschen „Wahrsagerin“ aus jenem vorhergehenden
Film kommt hier erneut zum Einsatz, in der Wohnung Joan Bennetts:
Woman in the Window |
Genauso der
grosse Spiegel, in dem sich in Ersterem das letzte Aufeinandertreffen von
Duryea und der von Ray Milland gespielten Hauptfigur vollzieht; der Spiegel im
Wohnzimmer Bennetts hier ist noch überdimensionaler, komplexer. Praktisch in
jeder Einstellung dieser Wohnung sehen wir einen Spiegel; nicht nur diesen
grossen im Wohnzimmer, auch im Bad usf.
Langs Obsession mit Architektur, mit
Formen (immer wieder: Kreis innerhalb eines Quadrats) ist in diesen Filmen
genauso evident wie in denjenigen aus der Zeit vor dem Exil. Bereits die den
Film eröffnende Einstellung von Ministry of Fear ist in dieser Hinsicht ein
Meisterstück; die Kamera fixiert zunächst eine tickende Uhr, fährt dann
allmählich zurück und enthüllt die verschiedensten Schichten und Blöcke von
Licht und Schatten, die in diesem Raum ihr Unwesen treiben, bis schliesslich
die Hauptfigur in der kameranahen Ecke zum Vorschein kommt. Der Raum, so stellt
sich später heraus, liegt in einer psychiatrischen Anstalt. Ähnlich, vielleicht
noch extremer das Finale in Langs nächstem Film „Scarlett Street“, wo ein Raum
vom rhythmisch zyklischen Licht eines Strassenlichts erfasst wird, sich Hell
und Dunkel abwechseln, und damit das Wahnsinnige im Kopf des Protagonisten,
erneut Edward G. Robinson, spiegeln.
In Scarlet Street sehen wir, wie ein respektabler, aber einsamer
Zeitgenosse in den Ruin getrieben wird. Er hat nichts falsch gemacht, er ist nur
auf der Suche nach Zuneigung, nach Liebe… doch am Schluss verliert er alles,
wird ein gebrochener Mann und zudem in den Wahnsinn getrieben. Immer wieder
sehen wir in Langs Filmen, wie der Kontakt mit der Gesellschaft ein Individuum
in den Abgrund treibt. Gesellschaft strömt bei Lang überhaupt nichts Positives,
nichts Erlösendes aus so wie bei vielen amerikanischen auteurs. Gesellschaft ist Schrecken; trifft ein Individuum mit ihr zusammen, macht sie es, mit Zugabe von Zeit (deshalb so viele Uhren in Lang - man braucht nur ein wenig zu warten...) zu einem Wahnsinnigen (Scarlet Street), gar zu einem Monster (Fury). The Woman
in the Window ist hier vielleicht weniger konsequent; das Ende, bei dem der
Grossteil des Films als Traum demaskiert wird, finde ich trotzdem sehr
gelungen. Wir sehen eine weitere Variation von Langs Thema, dass nichts ist, wie
es scheint (vielleicht das entscheidende „Thema“ von Ministry of Fear!). Doch
eigentlich ist ja ein Traum auch bloss eine Form des Wahnsinns.
++
Autor: Cameron
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