O: Blindness, USA 2008 R: Fernando Meirelles mit Julianne Moore, Mark Rufallo, Alice Braga und Danny Glover |
Was wir sehen, ist bitterkalte Angst, verzweifelte Gesichter, terrorisierende Tumulte und pulsierende Anarchie. Für uns ist es unvorstellbar. Für die, die wir sehen, das Ende. Sie sind einander ausgeliefert; ohne Gesetz und ohne System. Sie sind Gefangene von Verwaltungsprinzipien, die sich selbst nicht mehr ernähren, gibt es niemanden, der sie füttert. Es würde keine Rolle spielen, ob das gegen unser prinzipielles „Wollen“ wäre, denn letztlich würden sich über jeden die gleichen Schleier legen. Was diese nun bewirken oder hervorrufen würden, ist die entscheidende Frage. Und es lag wohl im Ermessen des Filmes und des gleichnamig adaptierten Buches Josè Saramagos sich dieser Hypothesenfindung zu stellen.
In „Die Stadt der Blinden“
gibt niemand vor, wie Ordnungen zu bewahren, Abläufe zu strukturieren und
gesellschaftliche Fortbestände zu sichern sind. Niemand garantiert für
irgendwas. Regeln verfallen und Chaos triumphiert. Diese Vision ist
erschütternd, wenn auch nicht neu und wenn auch nicht qualitativ geschult. Doch
die Tatsache, dass hier (fast) alle Menschen ohne ersichtlichen Grund
erblinden, und sich gerade erst deshalb diese anarchistischen wie nicht minder
apokalyptischen Zustände einstellen, ist es, die „Blindness“ zumindest übers Durchschnittsvermarkungsziel hebt.
Denn die manchmal schon fast metaphorische Wirkung, die die Frage nach
dem „Warum“ in den Hintergrund drängt
und eher eine individuelle Selbsterklärung fordert, ist ein interessewahrendes
Gut.
„Was wir sehen, ist nicht, was
wir sehen, sondern was wir sind“, schrieb
Fernando Pessoa in seinem „Buch der Unruhe“. Möglicherweise hindert uns das
Sehen aber gerade an der Erkenntnis, was wir sind. In „Stadt der Blinden“
müssen die Bewohner ihr Augenlicht verlieren, um zu verstehen, wer sie sind
oder besser: um zu begreifen, was sie noch sind. Dass führt zu aufwühlenden
Gedankenspielereien und auch die finale Umsetzung der Lernprozesse in Form der
Fragestellung, wie ich ohne eine Sinneswahrnehmung ‚weiterleben‘ kann, ist
stilistisch annehmbar gelöst; insbesondere, weil es so schwierig ist, Blindheit
zu visualisieren. Regisseur Fernando Meirelles, verantwortlich für den
großartigen „City of God“ und die
Pharmagurke „Der ewige Gärtner“,
spielt mit grellen Farben, angreifenden Tönen und legt weiße Hüllen über die,
die ihr Augenlicht verlieren. Er lässt uns sehen wie sie – zu einem Teil
zumindest. Immer noch ist es aber enttäuschend, dass der gebürtige Brasilianer
keine Feinheiten im Umgang dieser Mittel zu kennen scheint. Er drückt sie uns
auf. Und das wirkt nicht selten unangebracht, proletenhaft und störend. Wieder
und wieder sehen wir grelle Schimmer, wieder und wieder das gleiche Spiel.
Atmosphärische und emotionale Belanglosigkeiten sind die Folgen dieser maßlosen
Übertreibung. Das ist aber nur ein Bruchstück der Absenzen, die sich „Blindness“ aufgrund der
schwergewichtigen Thematik glaubt leisten zu können.
Diktatur nach innen und außen: Eine Flucht aus dem sich aufbauenden Regime ist nicht möglich |
Das Schlimme: Der
Ursprungskern der Probleme baut sich schon formal auf. Denn Meirelles gliedert
die ohnehin recht dünne Geschichte ohne wirkliche Handlungsträger oder
Identifikationsfiguren in grob drei Themengebiete ein: Ausbruch, Umgang und
Bestehen. Die Vielzahl landet bei der zweiten Phase – dem schwächsten Glied in der Reihe.
Es ist ein etwas seltsames Experiment, das Meirelles und wohl auch der
Buchautor Josè Saramago, hier durchzuführen versuchten. Vermeintlich ist die Blindheit ein Alibi für das
Kammerspielchen, das sich in „Die Stadt
der Blinden“ bald darauf entwickelt. In morschen und heruntergekommenen, mau
eingerichteten und unterversorgten Gemäuern sperrt die ratlose Regierung
die ein, die an der unerforschten Krankheit, im Film auch als weiße Seuche bezeichnet, leiden.
Abgeschottet von der Außenwelt und umzingelt von militärischen Einheiten müssen
die Blinden ihren Alltag selbst
organisieren; inklusive der Einteilung der seltenen Essenslieferungen. Dass das
Recht des Stärksten um sich greift, darauf muss niemand lange warten – und der
Mächtigste ist im übelsten Falle der, der die Knarre hat. Altmodisch, wenn auch
nicht generell abwegig. Und so ist es auch hier; irgendeiner beschließt sich
und seinen ‚Bereich‘ über die anderen
zu stellen – und wird dies in Zweifel gestellt, droht er mit Feuergewalt.
Interessant wäre es dahingehend gewesen, hätte niemand eine Waffe gehabt,
sondern einfach betont, sie würde benutzt werden, wenn es unabdinglich wäre.
Die Schusswaffe in „Blindness“ ist
jedoch de facto zugegen.
Und Meirelles hat
noch ein As im Ärmel: Neben einem geladenen Revolver, gibt es jemanden, der
immun gegen das ist, was geschieht. Warum? Das wird nicht geklärt.
Interpretationsansätze bleiben chancenlos, denn liefert das Drehbuch keinerlei
bedeutungsvolle Hinweise, warum gerade eine mittelständische Frau (gespielt von
Julianne Moore), welche auch von allzu menschlichen Charakterschwächen
gezeichnet ist, nicht vom weißen Schleier
überzogen wird. Soll das eine metaphysische Betrachtung verstärken? Oder
fungiert sie vielleicht als Anführerin aus
unmenschlichen Talfahrten in die Menschlichkeitsebenen? Es wäre zwecklos, würde
ich jetzt beginnen zu deuteln, denn schlussendlich wäre ich mir selbst uneins,
ob ich damit zufrieden sein könnte. Meirelles bietet mir viel zu wenig
zugängliche Einblicke, viel zu wenig Intimität. Und obwohl seine Symbolik
scharfsinnig ist – so führt er unter anderem anhand von gefühllosen Sexszenen
die Hoffnungslosigkeit vor; Sex gegen Beklommenheit, Sex für Essen -, genügt
mir das nicht, um die schwächelnden Figurenzeichnungen zu entschädigen.
Ich möchte dem
Film keine Dummheit vorwerfen oder ihn als provisorisch schlauklug abtun, aber
ich erlaube mir zu sagen, dass es „Blindness“
an Komplexität und schlichtweg Logik mangelt. Mir will es nicht in den
Kopf, dass sich eine sehende Frau,
die alles Grauen mit sechs Sinnen wahrnehmen kann, lieber für Brot und Wasser misshandeln
lässt, als vorteilhaft für sich und andere zu denken – und es wäre eine
peinliche Ausrede, würde man dies mit der Angst vor den Konsequenzen begründen,
gibt es doch genug Szenen, die das wiederum wiederlegen. Und genau das ist der
Punkt: Der Film ist in sich zerstritten, merkwürdig uneinig in seinen
Komponenten, schockierend, aber langweilig, gewollt anspruchsvoll, aber doch
gehaltlos. „Die Stadt der Blinden“ ist
nicht so gut, wie er sich gibt und schon gar nicht so wertvoll, wie die von ihm
an sich selbst gestellten Ansprüche.
Die letzte Phase des Films: Das Bestehen im Kollektiv wird unvermeidlich, Zusammenarbeit unabdinglich |
Was bleibt ist ein kurzweiliges Momentum, das sich durch gute
handwerkliche Arbeit, lassen wir nervende optische Ausschmückungen einmal außen
vor, zumindest nicht gänzlich nackt und hilflos an den öffentlichen Pranger
stellt. Beschränkt man „Blindness“ allerdings
auf inhaltliche Nachhaltigkeit, dann sollte und wird hoffentlich jedem klar,
dass das ein tendenziell schrecklich von sich selbst eingenommenes Exemplar ist.
„Bitte beachte mich, bitte finde mich
furchtbar kritisch, bitte, bitte, bitte …“, eine Hilfeschrei eines Films,
der sich sein Schicksal selbst zugefügt hat – und zu Recht gescheitert ist.
Die Botschaft des Werks, die sich dem Dienste des Humanismus verschrieben
hat, ist glasklar und macht sich am banalen, aber ableitbaren und wohl auch
taktisch klügsten Ende deutlich. „Wir
haben verstanden, Herr Lehrer, Herr Oberkonstruktivergravitätischerfilm“, das
möchte man von uns hören; einen Applaus vielleicht auch.
[Wir waren blind und würden nun einander sehen; besser, klarer und
deutlicher, als wir je zuvor geglaubt haben. Akzeptieren könnten wir, gleich
wenn der womögliche Rückschritt eingeläutet
wurde. Dies begründet Meirelles/Saramago nicht anhand der Blinden, sondern
anhand der Person, die es nie war: „Und was war mit dieser Frau die
jetzt so seltsam still war, die so eine ungeheuerliche Last getragen hatte und
nun plötzlich davon befreit war.“ Ein
konsequenter Schritt und Schnitt. Die Position, die Julianne Moore beinahe über
den ganzen Film innehatte, wird ihr plötzlich entzogen, sie wird von ihr
entbunden; ist befreit. Aber wie fühlt sich das schon an, wenn man der
Normalität aufs Neue beraubt wird – und sich wieder anpassen, sich wieder
umstellen muss? Während sich jene Erblindete über die allmähliche Rückkehr ihrer Sehkraft freuen, ist es für diejenigen, die durch die Blindheit anderer eine elementare, wichtige und leitende Position zugesprochen bekamen, eine erbitterliche Qual.
Man wird umso schwächer je weniger man zu gehen bereit ist. Umso
logischer und einleuchtender ist dann der letzte Satz des Films, der tiefer in
die Persönlichkeit und Psyche der geheimnisvollen Immunen blicken lässt als irgendeine
Szene zuvor. Mit den Worten „Ich werde blind, dachte sie“ werden wir aus dem Geschehen gerissen. Und diese Empfindung ist nur allzu verständlich; und lässt erahnen, dass auch Stärke Schwäche kennt und schützende Fassaden bröckeln können, hat man sich an die vermeintliche Sicherheit dieser gewöhnt.]
5.5 / 10
Autor: Iso
Ich hätte nie solch treffende Worte für "Stadt der Blinden" gefunden, Glückwunsch zu diesem gelungenen Text. Phasenweise ging mir der Film im Mittelteil zu sehr Richtung "Das Experiment" und vertiefte damit ein Handlungselement, welches man meiner Meinung nach kürzer hätte fassen können. Und das letzte Drittel, ein theoretisch interessanter Part, wackelte stark in seiner Glaubwürdigkeit.
AntwortenLöschenIch kenne die Vorlage zwar nicht, war aber nach Sichtung des Films überrascht, dass der Autor sich so lobend über die Verfilmung seines Buches äußerte.
Ja, er missbraucht halt seine grundinteressante Thematik mit totgetretenen Klischees. Ich kann jetzt nicht behaupten, er ist so schlecht, dass ihn jeder aufgrund ausgewachsenen Schwachsinns abgrundtief hassen muss, aber verdient halt auch nicht mehr Aufmerksamkeit. Restverwertung, mehr war das nicht. Der von Dir genannte Film hat die zweite Phase des Films besser, weil ausführlicher und um einiges beklemmender beschrieben und "Children of Men" - wie einige andere Filmchen - die erste und dritte.
LöschenUnd ja, die Huldigung des Autors hat mich auch etwas verwundert - insbesondere weil er ja zudem Literaturnobelpreisträger ist. Ich kenne sein Buch nicht, will ich auch nicht mehr, nachdem er den Film mit Lob umjubelte, aber entweder es ist nicht besser oder er ist sich einfach bewusst, dass das das Optimum war - und dem kann ich auch zustimmen. Ob mans dann loben muss, nur weils besser nicht geht, ist eine andere Frage, aber grundsätzlich ist es halt unwahrscheinlich schwer, wenn man Blindheit visualisieren will - und vielleicht sollte man in einem solchen Fall Buch einfach Buch sein lassen; und ich hätte es eventuell auch mal gelesen.