Hervorragend gemachter Film des georgisch-deutschen Regiepaars Nana Ekvtimishvili und Simon Gross, der allerdings etwas zu didaktisch
daherkommt. Schwerfällige Aussagen belasten den Zuschauer, der mit allerlei
Übel konfrontiert wird. Im Georgien kurz nach der Unabhängigkeit mangelt es an
Problemen nicht. Lebensmittelknappheit, Gewalt auf offener Strasse, antiquierte
Geschlechterrollen, Heirat von Minderjährigen, dysfunktionale Familien,
alkoholisierte Väter. All dies taucht auf im Milieu, für das wir während gut 90
Minuten geworfen werden. Ein Milieu, das äusserst authentisch gezeichnet wird,
Stichwort „Realismus“: den Schmutz in den Kachelböden der Toilette kann man
förmlich riechen; die Kamera verharrt zuweilen noch über das Ende der eigentlichen
Aktion hinaus auf dem Umfeld, z. Bsp. einer Strasse, und Menschen marschieren
ins Bild, frei vom Kontext der Handlung, Menschen die nicht dem Verstand des
Erzählers entspringen, sondern dem Ort. Die Audiospur, genauso „realistisch“,
ist voll von Strassenlärm und Vogelgezwitscher. Und doch: inwiefern kann man
einen Film realistisch nennen, dessen Handlung in erheblichen Masse konstruiert
ist, und zwar so konstruiert, um dem westlichen Zuschauer dieses bestimmte
Milieu mit all seinen ihm inhärenten Problemen möglichst effektiv
näherzubringen? Andererseits ist Kino, wie Pedro Costa sagt, dazu da, Menschen
auf etwas aufmerksam zu machen, zu zeigen: hier läuft etwas falsch.
Die beiden Hauptdarstellerinnen, zu regelrechten Heldinnen
stilisiert, sind innerlich äusserst starke Mädchen, die sich zur Wehr setzen, schlussendlich
ohne dabei Gewalt anzuwenden. Jede Sequenz dient dafür, irgendeine
Ungerechtigkeit oder Schwierigkeit zu zeigen, mit denen die Mädchen zu kämpfen
haben, ob zu Hause, in der Schule oder auf der Strasse. Der Vater des einen
Mädchens ist abwesend (er steckt, wie sich nach und nach herausstellt, im
Gefängnis), derjenige des anderen Mädchens Alkoholiker und dauernd im Streit
mit der Mutter; und auch von der Grossmutter wird das arme Mädchen nur
angeschrien. Die Lehrerin verweist die Mädchen vor die Tür, obwohl diese nur
zum Opfer ihrer Kameraden geworden sind oder schlichten wollten. Um an Brot zu
kommen, muss lange angestanden werden, während die Soldaten des Bürgerkrieges
ruhig an der Schlange vorbeispazieren.
Die gut gemeinte Absicht des Films wirkt so am Ende etwas
belehrend. Dennoch kann man die dem Film innewohnende Kraft nicht leugnen;
herausragend sind dabei einzelne Szenen, vor allem in der zweiten Hälfte, die
plötzlich nicht aufgesetzt, sondern wahr wirken, etwa ein Tanz, den das eine
Mädchen mit steifem Gesichtsausdruck und nach etwas Alkohol vorführt, obwohl
sie - und wir mit ihr - die Feier, in
dessem Rahmen der Tanz stattfindet, nicht geniessen kann. Eine Art
kathartischer Tanz, in sich das Mädchen und eben auch der Zuschauer die ganze
Verzweiflung von der Seele "schreien" kann, ähnlich demjenigen am
Ende von Claire Denis` „Beau Travail“. Auch wird der Film sofort stark, wenn er
ins Melodramatische gerät, also eine bewusst
aufgesetzte Liebesgeschichte erzählt. In einer Szene gegen Ende stehen sich das
bereits verheiratete Mädchen und der Junge, der sich in sie verliebt hat (also der
ehemalige "Konkurrent" ihres Mannes) gegenüber; und während gleich
daneben ein Gitarrenspieler ein melancholisches Lied über unmögliche Liebe
singt, wechseln die beiden Blickkontakte. Hierbei sehen wir plötzlich eine shot
- reverseshot - Sequenz, auf die der Film bisher zugunsten langer
Kameraeinstellungen tendenziell verzichtet hat, die uns wuchtig mitreisst und
emotional berührt. Dies, obwohl die Schauspieler weder eine besonders uns
manipulierende Mimik verwenden, noch bestimmte herzzerreissende Dialoge zum
Besten geben - die Kraft der Szene rührt einzig aus dem Schnittraum (à la
Kuleshov-Experiment):
(das verheiratete Mädchen links, ihre Freundin rechts)
Ein erzählerischer Kniff hilft dabei, dass den ganzen Film
über Spannung herrscht: eine Pistole, die einem der Mädchen geschenkt wird,
sorgt beinahe für Suspense. Alles scheint auf eine Eskalation zuzusteuern, bei
der die Pistole wohl eine wichtige Rolle spielen wird… so scheint es.
Vergleichbar ist das mit einer Hitchcock-Situation, bei der Menschen um einen
Tisch sitzen und sprechen, während wir als Zuschauer wissen, dass unter dem
Tisch eine Bombe tickt.
7.0 / 10
Autor: Cameron
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