Clint Eastwoods Changeling könnte man sich auf zwei Arten nähern. Einerseits
kann man sagen: das Grundprinzip des Films ist nicht besonders «cinematisch»
(dieser Begriff ist natürlich verabscheuungswürdig und wird hier nur zu einer Illustration
verwendet: gemeint ist die scheinbare Eignung, ein gewisses Material in einen
Film zu verwandeln, zumindest im Rahmen des vorherrschenden (Hollywood-)Systems).
Andererseits kann man sagen: der Film ist ausgesprochen «cinematisch» und ein
Fallbeispiel dafür, was dieses Medium zu leisten imstande ist.
Dies ist zwar ein dämlicher Einstieg in eine Kritik; was ich damit
aber sagen möchte: der Film ist kein Melodrama, das eine Folge von
«Ereignissen» illustriert (oder weniger interessant als solches betrachtet),
das ein bestimmtes Erlebnis sichtbar macht, und es gibt keine «Action».
Stattdessen handelt er von einer abstrakten Idee – wie wird Wahrheit
konstruiert? Er zeigt auf, wie Tatsachen unterschiedlich aufgefasst wollen
werden können, wie Wahrheiten via bestimmten Sichtweisen unterschiedlichen
Zwecken dienen können, wie eine bestimmte Sichtweise als objektive Wahrheit
konstruiert, legitimiert und anderen aufoktroyiert werden kann. Es ist also ein
Film der Diskurse.
Wie in Eastwoods neustem Film, Sully, gibt es
a) ein Ereignis, das zwar am Ursprung des Films steht, diesen initiiert,
aber in der eigentlichen Filmerzählung ausgespart wird – Sully geht sogar noch
weiter, indem der Film erst nach diesem Ereignis beginnt, auch wenn die Erfahrung/Erinnerung
des Ereignisses dann in Rückblenden gezeigt wird. Beide Filme handeln dann vom
Umgang mit den Tatsachen dieses Ereignis – handeln vom Umgang mit etwas
Vergangenem und zeichnen dessen Spuren in der Gegenwart nach, von der
Bewältigung eines Traumas.
b) Beide Filme zeigen diese Bewältigung nicht nur als persönlichen
Kampf, sondern als Kampf gegen eine restriktive Gesellschaft, welche sich durch
den kämpfenden Protagonisten bedroht fühlt, weil er sie, ihre Regeln und
Diskursformen hinterfragt. Die systematische Ungerechtigkeit der Gesellschaft
(der Polizei) in Changeling gegen Frauen erinnert an Kenji Mizoguchi, wie Ben
Sachs schreibt.
Mit a) kommen wir darauf zurück, warum dieser Film die Möglichkeiten
des Kinos so gut ausschöpft: vielleicht nur das Kino macht es möglich, einen Vergleich anzustellen zwischen einem
Geschehnis und der Interpretation der Charaktere davon. Diese Interpretation
verändert das Geschehene, und wir werden Zeugnis etwas Bestimmten im Wandel der
Zeit. Ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben: cinema translates ideas into experience*. Die abstrakte Idee, die
Konstruktion von Wahrheiten, wird also für uns sichtbar und erfahrbar gemacht –
insbesondere die «falsche» Wahrheit, welche die Polizei sich erfindet, um einen
Imageschaden abzuwenden, und die durchsickert als Referenzwahrheit, zunächst
von Institution zu angeblich «neutralen» anderen Institutionen (Polizei zu
psychiatrischer Klinik und zu Medien), dann zu einzelnen Personen (dem Doktor,
den Krankenschwestern, Journalisten). Damit stimmt der Film auch mit dem Diktum
überein, das Pedro Costa einmal gegeben hat: dass Filme seit ihrem Beginn im
19. Jahrhundert eigentlich immer dazu da sind, Ungerechtigkeiten aufzuzeigen.
*Natürlich stimmt auch das Umgekehrte. Kunst ist eine unendliche
Kette der Verwandlung und Rückverwandlung zwischen Erfahrung und Idee.
Somit sind wir bei b). Die Ungerechtigkeit des (Polizei-)Systems
gegenüber Christine Collins / Angelina Jolie / Frauen ist insofern vollends,
als dass gegen Ende, als sich die Polizei gezwungen sieht, ihre Fehler
einzuräumen, dies nicht etwa aus Überzeugung oder Reue macht, sondern als
teleologische Handlung, die den Imageschaden in Grenzen halten sollte – für sie
ist der Fall nichts weiter als ein kleines Opfer, das gemacht werden muss, um
ihren Herrschaftsanspruch weiterhin manifestieren zu können. Der ganze Fall «Christine
Collins» und somit der ganze Widerstand im System dient letztlich nur der
Bestärkung dessen. Deshalb ist Changeling, der zwar mit einer optimistischen
Note endet, indem er sich auf die «unbezwingbare» Kraft und den Widerstand
konzentriert, die Christine Collins darstellt, indem sie nie aufgibt, nach
ihrem entführten Sohn zu suchen, ein pessimistischer Film, der die
Sinnlosigkeit von Widerstand demonstriert, und begreifbar macht, wie permanent «gute»
d.h. hinterfragende Elemente innerhalb eines Systems die Katastrophe, also die
totale Hegemonie und Willkürlichkeit des Letzteren, trotzdem hervorbringen, da
sie dieses auf Widerstand gefasst machen. Das System lernt durch die
interfragenden Elemente dazu und nimmt das Gelernte auf in seinen Katalog an
Handlungen, die einer Kritik entgegenzusetzen ist.
Der Film interessiert sich auch für den (verbindenden) Grat zwischen
einer persönlichen (=privaten) und gesellschaftlichen (=politischen)
Aufarbeitung des traumatisierenden Ereignisses. Zunächst ist Christine Collins
misstrauisch gegenüber dem Angebot, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit
zu gehen; sie will nur ihr Kind zurück und nichts Weiteres. Da sie aber damit
konfrontiert ist, dass Politisches immer auch in das Private eindringt, ist sie
gezwungen, das Angebot anzunehmen, ist gezwungen, ihre Trauer umzuwandeln in kämpferische
Energie. Die Frage, die sich aufdrängt: ist sie mehr Mutter oder mehr Märtyrer?
Im Rahmen des Films sind die beiden Begriffe deckungsgleich. Diese kämpferische
Energie wird überhöht darin dargestellt, dass weite Teile des Films schwer
anzusehen sind, da die Peinigung der Protagonistin ins Extrem geht. Dieser
Punkt, den ich dem Film zunächst als Kritik vorenthielt (unnötige Überhöhung,
völliges Fehlen von Subtilität, «Ausschlachten» der Grausamkeiten,
Überfrachtung des Films mit eindimensionalen, «dummen» Charakteren, Polizisten,
die, wie in einem klassischen Katastrophenfilm, der Mutter nicht glauben wollen
und übertrieben lange auf ihrem Standpunkt beharren), ergibt im Gesamtkontext des
Films dann Sinn.
++
Autor: Cameron
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