Selbst in diesem so zahlreiche
Höhepunkte aufweisenden Œuvre John Fords sticht die
CinemaScope-Produktion „The Long Gray Line“ (1954, für Columbia)
heraus; wenn nicht als einer seiner besten, dann auf jeden Fall als
seiner interessantesten Filme. Nur schon die Tatsache, dass das Leben
eines Mannes während über 50 Jahren gezeigt wird, von ein- und
demselben Darsteller, ist eindrücklich.
Dieser Mann ist Marty Maher (Tyrone
Power), irischer Immigrant, der Ende des 19. Jahrhunderts nach West
Point, der US-amerikanischen Militärakademie kommt, dort als
Kellner, Hilfskraft und Instruktor arbeitet, eine ebenfalls irische
Frau (Köchin, Maureen o‘Hara) findet und dabei unter anderem 2
Weltkriege miterlebt. Wie so viele von Fords Helden ist er ein
Mediator; jemand, der, selbst ein Fremdling, zwischen anderen
Menschen vermittelt, zwischen Menschen und der Institution (der
Akademie). Zuweilen tritt Maher sogar als Kuppler eines
Liebespärchens in Erscheinung. Zu Beginn des Films spielt Ford die
Unterschiede zwischen Maher (resp. dessen Aussenseitertum: als Ire
wird er verspottet) und dem West Point zugunsten humorvoller,
absurder Szenen aus; „What is this place? Is it maybe a prison, or
a looney house?“ – „This is the United States Military
Academy“, heisst es, als Maher den Campus zum ersten Mal betritt.
Er wird zeitweise Box- und Schwimminstruktor, obgleich er weder Boxen
noch Schwimmen kann.
Der thematische Reibung des Films:
Während Marty altert, bleibt die Institution genau gleich; so
wiederholen sich denn auch Bilder, Rituale und Worte („subsist,
subsist“ der Rat des Vaters, den Maher später an einen Ziehson
weitergibt). Fords Vorliebe für Paraden, Märsche und Tänze kommen
hier voll zur Geltung; Militärparaden durchsetzen die Handlung und
werden als Symbol für das immer Fortwährende, Unerbittliche,
Drängliche gehandhabt, als Symbol für den Lauf des Lebens. Oft
setzen sie ein an Momenten, an denen Maher zweifelt: Nach der
Fehlgeburt eines Sohnes (in einer grandiosen, dramatischen und
zugleich äusserst ruhigen Szene am Krankenbett seiner Frau, welche,
wie Gallagher in seinem Buch schreibt, die einzige, unmögliche
Kameraperspektive in Nachkriegs-Ford aufweist, da wir von aussen
durch ein hoch angebrachtes Fenster sehen, unter dem die Rekruten
marschieren), oder beim Tod seiner Ehefrau. Zwischen Szenen können
Jahre vergehen, ohne dass dies angekündigt wird. Man kann sie am
Saum von Mahers Uniform an den Abzeichen ablesen.
Insgesamt ist der Film in angenehm
nüchternem Ton gehalten, denn: Charakterlich durchläuft die
Hauptfigur keine grosse Veränderung – deshalb gibt es keinen
vorhersehbaren narrativen Bogen. Es ist das Leben selbst, das sich
bewegt, das vorwärtstreibt, das Altern – mehr hat der Film nicht
nötig. Dramatische Ereignisse gibt es genug, doch erscheinen sie
völlig natürlich, und wird ihnen kein besonderer Platz zugestanden,
oft sind sie reduziert, auf Eindrücke, Impressionen, die, so schnell
sie erschienen, schon auch wieder weggetragen sind vom Fluss des
Lebens. Ford hasst Exposition, Erklärungen. Diese Subtilität macht
den Film herausragend und für mehrere Sichtungen attraktiv. Wichtige
Details können zunächst übersehen werden, gar ganze Personen: in
einer der vielen, vielen Tisch- / Essenszenen im Hause Maher fehlt
plötzlich der Bruder, der, zusammen mit dem Vater, etwas später von
Irland nach West Point zog. In dieser Szene sind aber Gäste anwesend
und die Unterhaltungen so anregend, dass ich dies nicht bemerkte;
erst viel später stellt sich heraus, dass der Bruder ins „freie
Land“ wegzog, um im Kapitalismus Fuss zu fassen, ein Unternehmen zu
gründen (und sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren,
was Marty, trotz allem, verwehrt bleibt); und erst hier geht einem
das Licht auf, dass dieser Bruder zuvor nicht zugegen war. Ebenso:
kurz bevor der Vater dem Protagonisten eröffnet, dieser
bekomme ein Kind, hält sich o’Hara flüchtig die Hand auf den
Bauch, ein prägnanter, aber leicht zu verpassender Moment, auch weil
Ford das CinemaScope-Format praktisch immer füllt mit mehreren
Personen gleichzeitig. (Bild, Bild, Bild)
Die Kamera ist generell oft weit von
den Akteuren entfernt, und die Einstellungen dauern lang (die ASL,
Average Shot Length beträgt 13 Sekunden, etwas mehr als für Ford
und Hollywood üblich). Dies führt zu teils komplexen Dynamiken im
Bild. Als Beispiel hier eine andere Tisch- / Essenszene, die Re-union
Mahers mit Bruder und Vater:
Während Marty (stehend) zur Familie
spricht, ist diese mit Essen beschäftigt, der Vater degustiert den
Kuchen der Ehefrau,
die dann fragend zu ihm schaut, ob‘s
ihm geschmeckt habe.
Dann wendet sie sich ihrem Mann zu,
während nun aber der Bruder zu Martys Pfeife greift.
Hier unterbricht Marty das Gespräch um
seinen Bruder auf die Pfeife hinzuweisen; diesen Moment wiederum
nützt seine Frau, um sich des Vaters zu kümmern:
Als die Familie dann in den Nebenraum
ausweicht, um ein irisches Gebet zu sprechen, sind sie
spiegelverkehrt zu vorher angeordnet.
Für einen Film über eine
Militärakademie ist erstaunlich, wie viele typische Familienszenen
enthalten sind, wie viele Szenen in Küchen und an Esstischen
spielen. In Mahers Haus befinden sich drei Räume, Küche, Esszimmer
und Wohnzimmer, in denen sich wohl die Hälfte des Films abspielt,
und auch an den leichten aber stetigen Veränderungen im Inventar und
den Farben kann man viel ablesen über den Fluss der Zeit. Dave Kehr
ordnet „The Long Gray Line“ denn auch einem Cluster von Filmen
über die Ehe zu, die Ford in den 50ern gedreht hat (neben „Rio
Grande“, „Mogambo“, und „The Quiet Man“). Zwei
Institutionen also – Ehe und Militärakademie – deren Interessen
vordergründig nicht vereinbar sind: auch diese Reibung ein Thema des
Films. Ganz speziell sticht unter den Küchenszenen aber eine gegen
Ende des Films heraus, zu Weihnachten, lang nach dem Tode o’Haras.
Die Hauptfigur, nun eine stark gealterte, gezeichnete, beinahe
gebrochene Erscheinung macht sich in seiner Küche ein zwei Eier. Man
glaubt es kaum, dass diese Szene, in einer 90-sekündigen Einstellung
gedreht, aus einem Hollywood-Film entstammt und nicht „Jeanne
Dielman“.
Die Tragik dieser
Einstellung wird noch erhöht, indem danach junge, frische Rekruten
hinzukommen, deren Väter Maher alle gekannt hat – sie umgarnen
ihn, versorgen ihn, reichen ihm Kissen und Schal, um es ihm möglichst
gemütlich einzurichten. Mit der Präsenz dieser Soldaten ist die
Vergangenheit so nah, und wird eins mit der Realität dann in der
Schlusssequenz, einer letzten Parade, Maher zu Ehren gehalten, und
inmitten dieser Parade erscheinen ihm all diese längst vergangenen
Personen, Familienmitglieder, im Krieg verstorbene Soldaten. Sie
versinnbildlichen das typische Ford-Thema von der Gegenwart der
Vergangenheit (dieses Thema ist auch Ausgangspunkt des Regiepaares
Straub-Huillet, welches den Ford-Einfluss bei jeder Gelegenheit
erwähnt und das diesen Film hier als „Experimentalfilm“
bezeichnet hat. Und wenn in derselben Szene ganz am Bildrand im
Hintergrund zeitgenössische Autos und Reisebusse mit Touristen zu
sehen sind, während vorne die Parade weiterläuft, dann erinnert das
stark an Straub/Huillet-Filme wie „Othon“ oder „Antigone“,
bei denen das antike Setting und antike Kleider mit Autobahnlärm
konterkariert wird.).
Obwohl Maher von allen geliebt wird,
bleibt er immer Aussenseiter, selbst im Kreise seiner Angehörigen.
Was auch visuell verdeutlicht wird: man achte mal darauf, dass er bei
sämtlichen Screenshots mit mehr als 2 Personen in diesem Beitrag
immer am Bildrand steht.
9 / 10
Autor: Cameron
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