Freitag, 6. Juli 2012

Eine Tristesse – Oder: Seelenschmiede in des Gottes Gnade - Kritik: "An American Crime"

O: An American Crime, USA 2007 R: Tommy O'Haver mit Ellen Page, Catherine Keener, Ari Graynor und James Franco
Spoiler

Lernen sollte sie. Begreifen, an welchem Ende der Nahrungskette der steht, der keine Ehre und keine Sitten kennt. Sie hatte zu schreien, zu weinen, hatte der Unmensch zu sein, der sie angeblich war, während sich ihre quälenden Schmerzen wie lähmende Hüllen in und um das ihre Fleisch manifestieren sollten; festgebunden an einem Rad, das sie nach und nach zerriss

An American Crime beruht auf dem Mordfall der Sylvia Likens, einem aufgeweckten, viel zu jungen 16-jährigen Mädchen, getötet durch die innerliche Verzweiflung und psychische Labilität einer Frau, deren Leben prognostizierbar einem unausweichlichen Dammbruch entgegen glitt. Eine filmische Aufarbeitung solcher vielschichtig-komplizierter Begebenheiten, in denen der (Haupt)Täter nicht nur als ein schablonisiertes Etwas Geltung zu finden hat, begehen fast immer den Fehler sich einer unterschwelligen Disparität hinzugeben, welche sie schlussendlich der potentiellen Authentizität beraubt. Dem verschafft sich An American Crime aber etwas Abstand. Das Täter-Opfer-Bild ist prinzipiell gut strukturiert, durchdacht und emotional ergreifend. Dass Sylvia, das Opfer dieses häuslichen Martyriums, einen höheren Stellungswert als die Täterin, Gertrude Baniszewski, einnimmt, ist indes verständlich, wenngleich auch sie wichtiger Tatsachen beraubt wird, was zu einer Passivierung ihrer eigenen Kräfte und ihrem ungeheuren Willen zum Leben führt. 

Dabei ist es immer schwierig zu sagen, weshalb das mit Sylvia geschah und aus welchem Grund sie über Wochen gequält und misshandelt wurde; und letztendlich bleibt einem nicht mehr übrig als reflektierendes Betrachten. Dennoch: An American Crime bemüht sich seiner Sache, liefert Eindrücke und auch tatsächlich belegte Fakten und spart sich künstliche Melancholie oder fehlbehaftete Auschiffrierungen. Stattdessen bleibt der Fall größtenteils in seiner figurativen Konsequenz bestehen; beugt sich nicht der alltäglichen Mainstream-Maschinerie, wenn es um die filmische Analyse eines Kriminalfalls geht, sondern zollt mit dokumentarischem Stil dem grausamen Verbrechen Ehrfurcht. Eine möglichst genaue Rekonstruktion ist indes unabdinglich. 


Ihm ist jedoch auch bewusst, wie weit die eigene Rauheit trägt, bis sie zum Selbstzweck verkommt. Grenzen werden gesetzt, geht es um die visuelle Darstellung von Schmerz und Folter – und das ist auch gut so. Denn die Andeutung dessen, was wohl gleich geschehen wird, ist oftmals um einiges effektiver als die Offensive mit dem Stahlhammer. Ein abgedunkelter Schrei reicht nicht selten aus, um zu wissen, dass dieses Mädchen eine Talfahrt durch die dunkelsten und unvorstellbarsten menschlichen Seelenmanifeste durchwandern musste; gepeitscht mit bitterem Hohn und brutalem Hass und verfolgt von immer neuen Qualen. Dabei wären Visualisierungen nichts weiter als prinzipielle Befürworter des Kontroversbarometers.

Und dass sich An American Crime kritisch dagegen ausspricht; das ist schon daran zu erkennen, in welcher Art und Weise sich dieser Film selbst darstellt und vermittelt. Ihm geht der eigene kommerzielle Erfolg nicht über Niveau und Respekt seitens der Begebenheiten und sich selbst. Er ist anstrengend, nie aber von sich eingenommen. Er ist leicht empfänglich, jedoch nie zu locker oder simpel strukturiert. Der Wille hier etwas zu zeigen, dass es zu sehen gilt, ist unermesslich groß – und daher auch entsprechend qualitativ geschult. Gleich wenn das Werk nur zwei Millionen Dollar an Produktionskosten verschlang.

Dieser Film ist auch deshalb so gut, weil er unser Denken und Handeln unmittelbar anspricht – und damit so unberechenbar umgeht. Wir werden geschlagen, malträtiert und unser Schicksal befindet sich nicht selten auf der Schneide, auf welcher das der Sylvia Likens über Wochen hinweg stand. Der Außenstehende ist aber nicht nur eine Person, gehört nicht nur zu jener, bei der es am besten zu leiden gilt, sondern ist immer ein Teil des Ganzen; und damit auch des gesellschaftlichen Verhaltens. 

An American Crime richtet sich nur nach dem Opfer oder Täter aus, ist vielmehr eine Parabel für personenbezogenen Gutglauben oder dem einfachen Willen zu Gunsten des eigenen Lebens.

Sylvia Likens wurde über Wochen in einem Keller eingesperrt, isoliert oder unerreichbar war sie jedoch nie. Es gab Nachbarn, gewissermaßen auch Hilfe… und Hoffnung. Und man kann sich sicher sein; auch sie, die Außenstehenden, würden sich, spräche man sie darauf an, gegen das aussprechen, was vorfiel, würden entsetzt schreien, ungläubig schauen und dennoch behaupten, nie etwas bemerkt zu haben. Solche Menschen gibt es zuhauf und die meisten von uns füllen diese Typen aus. 


Und dieses Werk spricht uns darauf an; oftmals unterschwellig und nicht immer explizit verdeutlicht, aber symbolisch durchaus vernehmbar. Klar wird: Sylvia wurde festgehalten. Aber sie wurde nicht abgeschottet. Sie schrie und bat um Hilfe und wurde auch vernommen – von Nachbarn und Freunden. Doch die Angst, man könne etwas falsches annehmen oder sich selbst gefährden, siegt schlussendlich über die Vernunft des eigenen „richtigen“ Verstandes. Und das wird in An American Crime mehr als deutlich manifestiert. Der „Uns geht das nichts an“-Gedanke obsiegt. So war es damals und so ist es heute. Wir alle sind immer ganz furchtbar schockiert, lesen oder hören wir von einem Gewaltverbrechen, das im Regelfall auch außerhalb unseres Wohnkreises stattfand – aber das ist passiv. Unsere Reaktionen auf ein solches direktes Verbrechen im nahen Umfeld, bei welchem man vom passiven zum aktiven Zeugen und damit auch Handelnden wird, stellen unsere ursprüngliche Vorsätze an uns selbst und damit auch den Helfergedanken auf den Kopf – ganz einfach aus Angst und Unangepasstheit. Die Frage des „wie reagieren“ weicht der Frage des „ob reagieren“.

Diese Vorstellung ist beängstigend, aber näher an der Realität als die Scheinheiligkeit des wahrenden Guten in uns. Und letztlich ist das Gute – so wie das „gut“ fühlen – immer ein subjektiv zu betrachtendes Wort. An American Crime zeigt auf, wozu ein jeder von uns fähig ist; und vor allem wie schnell Passivität zu aktiver Beteiligung reifen kann. Die Ermordung der Sylvia Likens ist kein gleichgültiges Verbrechen ebenso wenig wie es fundamental leidenschaftlich ist. Gertrude Baniszewski, die die „Bestrafung“ Sylvias im eigenen Haus einleitete, war selbst Mutter von sechs Kindern. Sie hatte nichts gegen das Mädchen Sylvia, das sie über mehrere Wochen als Ziehkind zu Hause bei sich aufnahm, aber sie hatte etwas gegen ihr vermeintlich besseres Wohl – und auch gegen das Leben des jungen Mädchens, das später vielleicht besser sein könnte als das ihre und das ihrer eigenen Kinder. Baniszewski brauchte einen Sünder, ein schwaches Glied, das sie sich zurecht biegen konnte; eines, welches ihr die Bibel über lange Zeit nicht geben konnte. Sie hatte Schulden, jedoch kein Geld, mit welchem sie sich aus der Misere hätte befreien können. Ihre Kinder waren unglücklich, mitunter auf dem gleichen Weg in Demut und Hoffnungslosigkeit. Sie konnte ihnen nichts bieten, nichts versprechen und letztlich predigte sie selbst gegen sich, ohne alternative Möglichkeiten zu besitzen, sich anders zu orientieren.

Außer Haus hätte ein jeder versucht den bröckelnden Frieden mit sich und der Welt zu überdecken, es so aussehen zu lassen, als sei alles einem idealen und glücklichen Lebensstand entsprechend. Gertrude Baniszewski machte da keine Ausnahme. Und wer kann es ihr auch verübeln? Sie hielt sich mit Hausarbeit über Wasser, passte auf Nachbarschaftskinder auf oder bügelte die Wäsche für jene Menschen, zu denen sie sich selbst nie zählen konnte. Sie machte den Eindruck einer starken Frau, war seelisch aber am Rande einer eigenen Destruktion. Ahnen konnte dies niemand – außer vielleicht die Kinder Baniszewskis. Als die Likens-Familie beschloss ihre zwei Kinder, darunter auch Sylvia, über die Sommermonate bei der sechsfachen Mutter in Obhut zu geben, war niemandem bewusst, dass die innerliche Devastation der nach außen starken Frau auszubrechen drohte. 

Die Frage nach dem „Warum?“ stellt sich dennoch.  Weshalb musste dieses Kind sterben? Sylvia war nicht aufdringlich, nicht unfreundlich und nicht anders als der Durchschnittsteenie; sie war normal, genoss das Leben und stellte Abwechslung über alles – ohne aber jemanden schaden zu wollen. Aber gerade diese von ihr ausgestrahlte Freundlichkeit und der Spaß am Hier und Jetzt waren es, die den Ausschlag des Gefangenseins und der Reinigung seitens der Baniszewskis bildeten.

Das Mädchen entsprach einem Bild, welches Gertrude Baniszewski nicht verstehen wollte und wohl auch nicht verstehen konnte. Ihre eigenen Kinder waren nicht so; sie hatten nicht diese Lebenslust, dieses Genussstreben oder diesen glücklichkeitsschenkenden Schimmer in den Augen, weil sie ihre Kinder anders erzog, sie anders lehrte – und auch das durch den Zwang ihres sozialen Bruchs. Und wenn man am tiefleeren Abgrund steht, einem nichts bleibt, außer der eigene Fall in einen noch dunklere Alptraum als zuvor, ist das Lachen und Strahlen einer Fremden der letzte fehlende Hauch ins schwerste verbleibende Leid. Sylvia musste nicht lästern, nicht zu spät zum Essen kommen oder zu eigen sein, um den Zorn der Familie auf sich zu ziehen. Sie musste einfach nur atmen und leben, wie sie lebte. Es genügte ein Lächeln, um Baniszewski zum Weinen zu bringen. Vergeltung lag in der Luft. Das Likens-Mädchen wurde zum Sündenbock eigener Probleme und der Unsicherheit eigenen Weiterlebens. Wenn sie genoss, wurde sie bloßgestellt, wenn sich ihr mehr bot als den Baniszewski-Kindern, wurde sie geschlagen und wenn sie sich auflehnte, drohte ein höherer Akt der Gewalt. Alles war berechtigt. Sie hatte gesündigt und sie galt es zu reinigen, so schwor es Gertrude zu ihren Kindern, animierte sie zur Mithilfe und involvierte sie in brutale Folterung, aus welchen alle Beteiligten Macht und Herrschaft schöpften und nur eine Erniedrigung erfuhr. Ihr war nicht unklar, was sie der 16-Jährigen antat, aber klar, wie wichtig sie für ihre Triebe nach (Un)Gerechtigkeit war.


Während dieser Misshandlungen fällt es schwer zu verstehen und schwer zu glauben, was in diesem Haus geschah. Derjenige, der dies anhand dieses Films vorstellbar und teilweise visualisiert zu sehen bekommt, wird sich womöglich in einer Schockstarre wiederfinden, vielleicht aber dennoch nicht vollkommen verstehen, wie dieses zugefügte Leid ergründbar ist – und das kann man möglicherweise auch nicht. 

An American Crime ist ein bitterer, aber wichtiger Film zur Aufarbeitung jener Ereignisse. Zufrieden bin ich mit ihm jedoch nicht gänzlich. Unverständlich bleibt mir, weshalb wesentliche Fakten übergangen wurden und hier keine Beachtung fanden. 

Einem bleibt verschwiegen, dass Jenny Likens, Sylvias jüngere, ebenfalls im Haus der Baniszewskis wohnende Schwester, die ältere Schwester Diana Likens per Brief über die Zustände im jetzigen Wohnumfeld informierte. Diese dachte allerdings an eine Übertreibung seitens des jüngsten Likens-Kindes, was womöglich unzufrieden mit der Lebenssituation war. Trotzdem besuchte Diana das Baniszewski Haus, wurde aber von Gertrude nicht hereingelassen und abgewimmelt. Als sie vor dem Haus auf ihre jüngere Schwester Jenny wartete und sie schlussendlich auch zu sprechen bekam, erzählte die ihr, sie könne nicht reden. Daraufhin nahm Diana die Sache selbst in die Hand, kontaktierte das Sozialamt und äußerte sich besorgt zum Verhalten ihrer Schwester und Gertrude Baniszewski.  Eine Mitarbeiterin suchte das Haus auf. Allerdings war Jenny erneut – unter Druck – gezwungen zu lügen und sagte aus, dass Sylvia weggelaufen sei. Das Sozialamt schloss daraufhin die Akte und stellte alle weiteren Untersuchungen ein. Sylvia selbst befand sich, auch während des Besuches der Sozialarbeiterin, eingesperrt im Keller des Hauses.

Ein weiterer Punkt, der auf den ungeheuren Lebenswillen von Sylvia schließen lässt, ist jener Beleg, dass sie während ihrer Gefangenschaft im Keller nächtlich mit einer Schaufel gegen die Wände schlug, um sich nach außen bemerkbar zu machen. Nachbarn hörten dies, wollten gar eine Beschwerde wegen Ruhestörung melden – daraufhin blieb der Krach aber aus, die Polizei wurde nicht kontaktiert.


Zu einfach ist ebenfalls die Zeichnung der indirekt Beteiligten. Zwar gibt es eine besagte Szene, in der ein Nachbarspaar gezeigt wird, welches die Schreie Sylvias ignoriert und mit Gerechtigkeit begründet, aber letztlich ist dies die einzige Szene, welche überhaupt näher in diese Thematik eindringt. Dies hätte man verstärken können, indem man den besagten Besuch des Sozialamtes eingebunden hätte. Dies hätte die Eindrücke nicht nur detailieren, sondern auch intensivieren können. 

Begrüßenswert ist es, dass der Anteil von tatsächlich visualisierter Gewalt zurückhaltend ist. Das entspricht dem durchaus gegen den Strom schwimmenden Prinzip des Kopfkinos. Kritisch hinterfragen sollte man es aber schon, ob An American Crime manchmal nicht zu besessen davon ist, um Himmels Willen nicht zu viel zeigen zu wollen. Denn liest man Berichte über den Mordfall, dann ist schon erschreckend, was diesem Mädchen noch alles zugefügt wurde. Natürlich wäre es respektlos gewesen, hätte man Sylvia durchs kinoprägende Schnitzelmesser gejagt, und das hätte ich auch nie und nimmer verlangt, aber manche Szenen sind mir dann doch zu wage – und ich hätte bei weitem nicht die gesamte Spannweite des tatsächlichen Vorfalls erfassen können, hätte ich nicht entsprechende, sehr gut recherchierte Internetseiten gefunden. 

Erstklassiges Spannungskino bleibt An American Crime dennoch und eine befriedigende Wiedergabe des Mordfalls auch. Und trotz aller Mängel schafft der Film das, was er schaffen wollte: eskalierenden Wahnsinn des (Un)Menschseins hinterfragend in den Raum zu stellen. Es gibt viele Ansichten. Viele Gründe. Und doch keinen wahren. Weil letztlich sind alle Gründe ein Grund und wir alle Bezugspunkte dafür, warum das geschieht, was passiert. Genau das ist es, was wir wissen sollen, wie wir damit umgehen, ist individuell zu sehen. Viele werden schockiert sein. Aufschreien. Sich vor diesen Menschen ekeln. Ich hoffe nur, dies ist nicht nur von Abspanndauer, sondern die bessere Erkenntnis dann abrufbar, wenn nötig und gebraucht.


7 / 10 

Autor: Iso

Quellen:  
Quelle 1 (Englisch)
Quelle 2 (Englisch)
Quelle 3 (Englisch)

3 Kommentare:

  1. Sehr gute und vor allem sehr ausführliche Kritik, der ich größtenteils zustimmen kann. Schön auch, dass du dein Fokus in erster Linie auf den Aspekt der Zivilcourage legst und das soziale Umfeld der Familie, ist eine gute Ergänzung zu meiner Kritik, die gänzlich andere Schwerpunkte setzt. Da du dich mit dem Fall eingehender beschäftigt hast, fällt deine Kritik und abschließenden Wertung auch einen ticken zurückhaltender aus, ist aber nachvollziehbar. Bitte mehr solcher Kritiken/Analysen. :)

    AntwortenLöschen
  2. Danke, solche Analysen nehmen aber immer ne ganze Ecke Zeit in Anspruch; hat den Grund, weil man sich erstmal durch ne Unmenge an Quellen durchkämpfen muss, bis mal eine halbwegs in sich geschlossene und ausführliche dabei ist. O_o
    Kann man Deine Kritik irgendwo nachlesen?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ist noch nicht gepostet. Geschieht aber beizeiten. ;)

      Löschen