O: An American Crime, USA 2007 R: Tommy O'Haver mit Ellen Page, Catherine Keener, Ari Graynor und James Franco |
Lernen sollte sie. Begreifen, an welchem Ende der Nahrungskette der steht, der keine Ehre und keine Sitten kennt. Sie hatte zu schreien, zu weinen, hatte der Unmensch zu sein, der sie angeblich war, während sich ihre quälenden Schmerzen wie lähmende Hüllen in und um das ihre Fleisch manifestieren sollten; festgebunden an einem Rad, das sie nach und nach zerriss
An American Crime beruht auf dem Mordfall
der Sylvia Likens, einem aufgeweckten, viel zu jungen 16-jährigen Mädchen,
getötet durch die innerliche Verzweiflung und psychische Labilität einer Frau,
deren Leben prognostizierbar einem unausweichlichen Dammbruch entgegen glitt.
Eine filmische Aufarbeitung solcher vielschichtig-komplizierter Begebenheiten,
in denen der (Haupt)Täter nicht nur als ein schablonisiertes Etwas Geltung zu
finden hat, begehen fast immer den Fehler sich einer unterschwelligen
Disparität hinzugeben, welche sie schlussendlich der potentiellen Authentizität
beraubt. Dem verschafft sich An American Crime aber etwas Abstand. Das Täter-Opfer-Bild
ist prinzipiell gut
strukturiert, durchdacht und emotional ergreifend. Dass Sylvia, das Opfer
dieses häuslichen Martyriums, einen höheren Stellungswert als die Täterin,
Gertrude Baniszewski, einnimmt, ist indes verständlich, wenngleich auch sie
wichtiger Tatsachen beraubt wird, was zu einer Passivierung ihrer eigenen
Kräfte und ihrem ungeheuren Willen zum Leben führt.
Dabei
ist es immer schwierig zu sagen, weshalb das mit Sylvia geschah und aus welchem
Grund sie über Wochen gequält und misshandelt wurde; und letztendlich bleibt
einem nicht mehr übrig als reflektierendes Betrachten. Dennoch: An
American Crime bemüht
sich seiner Sache, liefert Eindrücke und auch tatsächlich belegte Fakten und
spart sich künstliche Melancholie oder fehlbehaftete Auschiffrierungen.
Stattdessen bleibt der Fall größtenteils in seiner figurativen Konsequenz
bestehen; beugt sich nicht der alltäglichen Mainstream-Maschinerie, wenn es um
die filmische Analyse eines Kriminalfalls geht, sondern zollt mit
dokumentarischem Stil dem grausamen Verbrechen Ehrfurcht. Eine möglichst genaue
Rekonstruktion ist indes unabdinglich.
Ihm
ist jedoch auch bewusst, wie weit die eigene Rauheit trägt, bis sie zum
Selbstzweck verkommt. Grenzen werden gesetzt, geht es um die visuelle
Darstellung von Schmerz und Folter – und das ist auch gut so. Denn die
Andeutung dessen, was wohl gleich geschehen wird, ist oftmals um einiges
effektiver als die Offensive mit dem Stahlhammer. Ein abgedunkelter Schrei
reicht nicht selten aus, um zu wissen, dass dieses Mädchen eine Talfahrt durch
die dunkelsten und unvorstellbarsten menschlichen Seelenmanifeste durchwandern
musste; gepeitscht mit bitterem Hohn und brutalem Hass und verfolgt von immer
neuen Qualen. Dabei wären
Visualisierungen nichts weiter als prinzipielle Befürworter des Kontroversbarometers.
Und
dass sich An American Crime kritisch dagegen ausspricht; das ist schon daran zu
erkennen, in welcher Art und Weise sich dieser Film selbst darstellt und
vermittelt. Ihm geht der eigene kommerzielle Erfolg nicht über Niveau und
Respekt seitens der Begebenheiten und sich selbst. Er ist anstrengend, nie aber
von sich eingenommen. Er ist leicht empfänglich, jedoch nie zu locker oder
simpel strukturiert. Der Wille hier etwas zu zeigen, dass es zu sehen gilt, ist
unermesslich groß – und daher auch entsprechend qualitativ geschult. Gleich wenn das Werk nur zwei Millionen Dollar an Produktionskosten verschlang.
Dieser Film ist auch deshalb so gut, weil er unser Denken und Handeln
unmittelbar anspricht – und damit so unberechenbar umgeht. Wir werden
geschlagen, malträtiert und unser Schicksal befindet sich nicht selten auf der
Schneide, auf welcher das der Sylvia Likens über Wochen hinweg stand. Der
Außenstehende ist aber nicht nur eine Person, gehört nicht nur zu jener, bei
der es am besten zu leiden gilt, sondern ist immer ein Teil des Ganzen; und
damit auch des gesellschaftlichen Verhaltens.
An American Crime richtet sich nur nach dem Opfer oder Täter aus, ist
vielmehr eine Parabel für personenbezogenen Gutglauben oder dem einfachen
Willen zu Gunsten des eigenen Lebens.
Sylvia
Likens wurde
über Wochen in einem Keller eingesperrt, isoliert oder unerreichbar war sie jedoch nie. Es
gab Nachbarn, gewissermaßen auch Hilfe… und Hoffnung. Und man kann sich sicher
sein; auch sie, die Außenstehenden, würden sich, spräche man sie darauf an, gegen das
aussprechen, was vorfiel, würden entsetzt schreien, ungläubig schauen und
dennoch behaupten, nie etwas bemerkt zu haben. Solche Menschen gibt es zuhauf
und die meisten von uns füllen diese Typen aus.
Und
dieses Werk spricht uns darauf an; oftmals unterschwellig und nicht immer
explizit verdeutlicht, aber symbolisch durchaus vernehmbar. Klar wird: Sylvia
wurde festgehalten. Aber sie wurde nicht abgeschottet. Sie schrie und bat um
Hilfe und wurde auch vernommen – von Nachbarn und Freunden. Doch die Angst, man
könne etwas falsches annehmen oder sich selbst gefährden, siegt schlussendlich
über die Vernunft des eigenen „richtigen“ Verstandes. Und das wird in An
American Crime mehr
als deutlich manifestiert. Der „Uns geht das nichts an“-Gedanke obsiegt. So war es
damals und so ist es heute. Wir alle sind immer ganz furchtbar schockiert,
lesen oder hören wir von einem Gewaltverbrechen, das im Regelfall auch
außerhalb unseres Wohnkreises stattfand – aber das ist passiv. Unsere
Reaktionen auf ein solches direktes Verbrechen im nahen Umfeld, bei welchem man
vom passiven zum aktiven Zeugen und damit auch Handelnden wird, stellen unsere
ursprüngliche Vorsätze an uns selbst und damit auch den Helfergedanken
auf den Kopf
– ganz einfach aus Angst und Unangepasstheit. Die Frage des „wie reagieren“
weicht der Frage des „ob reagieren“.
Diese
Vorstellung ist beängstigend, aber näher an der Realität als die
Scheinheiligkeit des wahrenden Guten in uns. Und letztlich ist das Gute – so
wie das „gut“ fühlen – immer ein subjektiv zu betrachtendes Wort. An
American Crime zeigt
auf, wozu ein jeder von uns fähig ist; und vor allem wie schnell Passivität zu
aktiver Beteiligung reifen kann. Die Ermordung der Sylvia Likens ist kein
gleichgültiges Verbrechen ebenso wenig wie es fundamental leidenschaftlich ist.
Gertrude Baniszewski, die die „Bestrafung“ Sylvias im eigenen Haus einleitete,
war selbst Mutter von sechs Kindern. Sie hatte nichts gegen das Mädchen Sylvia,
das sie über mehrere Wochen als Ziehkind zu Hause bei sich aufnahm, aber sie
hatte etwas gegen ihr vermeintlich besseres Wohl – und auch gegen das Leben des
jungen Mädchens, das später vielleicht besser sein könnte als das ihre und das
ihrer eigenen Kinder. Baniszewski brauchte einen Sünder, ein schwaches Glied,
das sie sich zurecht biegen konnte; eines, welches ihr die Bibel über lange
Zeit nicht geben konnte. Sie hatte Schulden, jedoch kein Geld, mit welchem sie sich
aus der Misere hätte befreien können. Ihre Kinder waren unglücklich, mitunter
auf dem gleichen Weg in Demut und Hoffnungslosigkeit. Sie konnte
ihnen nichts bieten, nichts versprechen und letztlich predigte sie selbst gegen
sich, ohne alternative Möglichkeiten zu besitzen, sich anders zu orientieren.
Außer Haus
hätte ein jeder versucht den bröckelnden Frieden mit sich und der Welt zu
überdecken, es so aussehen zu lassen, als sei alles einem idealen und
glücklichen Lebensstand entsprechend. Gertrude Baniszewski machte da keine
Ausnahme. Und wer kann es ihr auch verübeln? Sie hielt sich mit Hausarbeit über
Wasser, passte auf Nachbarschaftskinder auf oder bügelte die Wäsche für jene
Menschen, zu denen sie sich selbst nie zählen konnte. Sie machte den Eindruck
einer starken Frau, war seelisch aber am Rande einer eigenen Destruktion. Ahnen
konnte dies niemand – außer vielleicht die Kinder Baniszewskis. Als die
Likens-Familie beschloss ihre zwei Kinder, darunter auch Sylvia, über die
Sommermonate bei der sechsfachen Mutter in Obhut zu geben, war niemandem
bewusst, dass die innerliche Devastation der nach außen starken Frau
auszubrechen drohte.
Die
Frage nach dem „Warum?“ stellt sich dennoch.
Weshalb musste dieses Kind sterben? Sylvia war nicht aufdringlich, nicht
unfreundlich und nicht anders als der Durchschnittsteenie; sie war normal,
genoss das Leben und stellte Abwechslung über alles – ohne aber jemanden
schaden zu wollen. Aber gerade diese von ihr ausgestrahlte Freundlichkeit
und der Spaß
am Hier und Jetzt waren
es, die den Ausschlag des Gefangenseins und der Reinigung
seitens der
Baniszewskis bildeten.
Das
Mädchen entsprach einem Bild, welches Gertrude Baniszewski nicht verstehen
wollte und wohl auch nicht verstehen konnte. Ihre eigenen Kinder waren nicht
so; sie hatten nicht diese Lebenslust, dieses Genussstreben oder diesen
glücklichkeitsschenkenden Schimmer in den Augen, weil sie ihre Kinder anders
erzog, sie anders lehrte – und auch das durch den Zwang ihres sozialen Bruchs.
Und wenn man am tiefleeren Abgrund steht, einem nichts bleibt, außer der eigene
Fall in einen noch dunklere Alptraum als zuvor, ist das Lachen und Strahlen
einer Fremden der letzte fehlende Hauch ins schwerste verbleibende Leid. Sylvia
musste nicht lästern, nicht zu spät zum Essen kommen oder zu eigen sein, um den
Zorn der Familie auf sich zu ziehen. Sie musste einfach nur atmen und leben,
wie sie lebte. Es genügte ein Lächeln, um Baniszewski zum Weinen zu bringen.
Vergeltung lag in der Luft. Das Likens-Mädchen wurde zum Sündenbock eigener
Probleme und der Unsicherheit eigenen Weiterlebens. Wenn sie genoss, wurde sie
bloßgestellt, wenn sich ihr mehr bot als den Baniszewski-Kindern, wurde sie
geschlagen und wenn sie sich auflehnte, drohte ein höherer Akt der Gewalt.
Alles war berechtigt. Sie hatte gesündigt und sie galt es zu reinigen, so
schwor es Gertrude zu ihren Kindern, animierte sie zur Mithilfe und involvierte
sie in brutale Folterung, aus welchen alle Beteiligten Macht und Herrschaft
schöpften und nur eine Erniedrigung erfuhr. Ihr war nicht unklar, was sie der
16-Jährigen antat, aber klar, wie wichtig sie für ihre Triebe nach (Un)Gerechtigkeit war.
Während
dieser Misshandlungen fällt es schwer zu verstehen und schwer zu glauben, was
in diesem Haus geschah. Derjenige, der dies anhand dieses Films vorstellbar und
teilweise visualisiert zu sehen bekommt, wird sich womöglich in einer
Schockstarre wiederfinden, vielleicht
aber dennoch nicht vollkommen verstehen, wie dieses zugefügte Leid ergründbar
ist – und das kann man möglicherweise auch nicht.
An American Crime ist ein bitterer, aber wichtiger Film zur Aufarbeitung
jener Ereignisse. Zufrieden bin ich mit ihm jedoch nicht gänzlich.
Unverständlich bleibt mir, weshalb wesentliche Fakten übergangen wurden und
hier keine Beachtung fanden.
Einem
bleibt verschwiegen, dass Jenny Likens, Sylvias jüngere, ebenfalls im Haus der
Baniszewskis wohnende Schwester, die ältere Schwester Diana Likens per Brief
über die Zustände im jetzigen Wohnumfeld informierte. Diese dachte allerdings
an eine Übertreibung seitens des jüngsten Likens-Kindes, was womöglich
unzufrieden mit der Lebenssituation war. Trotzdem besuchte Diana das
Baniszewski Haus, wurde aber von Gertrude nicht hereingelassen und abgewimmelt.
Als sie vor dem Haus auf ihre jüngere Schwester Jenny wartete und sie
schlussendlich auch zu sprechen bekam, erzählte die ihr, sie könne nicht reden.
Daraufhin nahm Diana die Sache selbst in die Hand, kontaktierte das Sozialamt
und äußerte sich besorgt zum Verhalten ihrer Schwester und Gertrude Baniszewski.
Eine
Mitarbeiterin suchte das Haus auf. Allerdings war Jenny erneut – unter Druck –
gezwungen zu lügen und sagte aus, dass Sylvia weggelaufen sei. Das Sozialamt
schloss daraufhin die Akte und stellte alle weiteren Untersuchungen ein. Sylvia
selbst befand sich, auch während des Besuches der Sozialarbeiterin, eingesperrt
im Keller des Hauses.
Ein weiterer Punkt, der auf den ungeheuren Lebenswillen von
Sylvia schließen lässt, ist jener Beleg, dass sie während ihrer Gefangenschaft
im Keller nächtlich mit einer Schaufel gegen die Wände schlug, um sich nach
außen bemerkbar zu machen. Nachbarn hörten dies, wollten gar eine Beschwerde wegen Ruhestörung melden
– daraufhin blieb der Krach aber aus, die Polizei wurde nicht kontaktiert.
Zu
einfach ist ebenfalls die Zeichnung der indirekt Beteiligten. Zwar gibt es
eine besagte Szene, in der ein
Nachbarspaar gezeigt wird, welches die Schreie Sylvias ignoriert und mit Gerechtigkeit
begründet,
aber letztlich ist dies die einzige Szene, welche überhaupt näher in diese
Thematik eindringt. Dies hätte man verstärken können, indem man den besagten
Besuch des Sozialamtes eingebunden hätte. Dies hätte die Eindrücke nicht nur
detailieren, sondern auch intensivieren können.
Begrüßenswert
ist es, dass der Anteil von tatsächlich visualisierter Gewalt zurückhaltend
ist. Das entspricht dem durchaus gegen den Strom schwimmenden Prinzip des
Kopfkinos. Kritisch hinterfragen sollte man es aber schon, ob An
American Crime manchmal
nicht zu besessen davon ist, um Himmels Willen nicht zu viel zeigen zu wollen.
Denn liest man Berichte über den Mordfall, dann ist schon erschreckend, was
diesem Mädchen noch alles zugefügt wurde. Natürlich wäre es respektlos gewesen,
hätte man Sylvia durchs kinoprägende Schnitzelmesser gejagt, und das hätte ich
auch nie und nimmer verlangt, aber manche Szenen sind mir dann doch zu wage –
und ich hätte bei weitem nicht die gesamte Spannweite des tatsächlichen
Vorfalls erfassen können, hätte ich nicht entsprechende, sehr gut recherchierte
Internetseiten gefunden.
Erstklassiges
Spannungskino bleibt An American Crime dennoch und eine befriedigende
Wiedergabe des Mordfalls auch. Und trotz aller Mängel schafft der Film das, was
er schaffen wollte: eskalierenden Wahnsinn des (Un)Menschseins hinterfragend in
den Raum zu stellen. Es gibt viele Ansichten. Viele Gründe. Und doch keinen
wahren. Weil letztlich sind alle Gründe ein Grund und wir alle Bezugspunkte
dafür, warum das geschieht, was passiert. Genau das ist es, was wir wissen
sollen, wie wir damit umgehen, ist individuell zu sehen. Viele werden
schockiert sein. Aufschreien. Sich vor diesen Menschen ekeln. Ich hoffe nur,
dies ist nicht nur von Abspanndauer, sondern die bessere Erkenntnis dann
abrufbar, wenn nötig und gebraucht.
7 / 10
Autor: Iso
Quellen:
Quelle 1 (Englisch)
Quelle 2 (Englisch)
Quelle 3 (Englisch)
Sehr gute und vor allem sehr ausführliche Kritik, der ich größtenteils zustimmen kann. Schön auch, dass du dein Fokus in erster Linie auf den Aspekt der Zivilcourage legst und das soziale Umfeld der Familie, ist eine gute Ergänzung zu meiner Kritik, die gänzlich andere Schwerpunkte setzt. Da du dich mit dem Fall eingehender beschäftigt hast, fällt deine Kritik und abschließenden Wertung auch einen ticken zurückhaltender aus, ist aber nachvollziehbar. Bitte mehr solcher Kritiken/Analysen. :)
AntwortenLöschenDanke, solche Analysen nehmen aber immer ne ganze Ecke Zeit in Anspruch; hat den Grund, weil man sich erstmal durch ne Unmenge an Quellen durchkämpfen muss, bis mal eine halbwegs in sich geschlossene und ausführliche dabei ist. O_o
AntwortenLöschenKann man Deine Kritik irgendwo nachlesen?
Ist noch nicht gepostet. Geschieht aber beizeiten. ;)
Löschen