Mittwoch, 21. Januar 2015

Anders' letzter Tag - Kritik: Oslo, 31. August (2011)

Eine Eröffnungsmontage zeigt vereinzelte Stadtteile Oslos. Dazu berichten mehrere Stimmen im Voice Over von ihren Erinnerungen und was sie mit ihrer Stadt verbindet. Ein hohes Gebäude wird niedergerissen. Mit anmontiert ist eine Kamera, die den Fall aufzeichnet. Wie diese baufällige Einrichtung wird später ein Mann fallen. Ein letztes Mal. Es ist nun der 30. August. Anders erwacht neben einer flüchtigen Bekanntschaft im Bett. Die blonde Schwedin ist bei weitem nicht seine erste Liebespartnerin. Wahrscheinlich hat er über die Gesamtzahl längst den Überblick verloren. Spielt nun auch keine Rolle, denn Anders hat heute ein ganz bestimmtes Ziel. Ein letzter Blick durchs leicht spiegelnde Fenster und er steigt eine Brückenunterführung hinauf. Sein Weg führt ihn über einen bewachsenen Waldweg, ehe er einen stillen See erreicht. Hier steigt er ins Wasser, fischt einen gewaltigen Stein heraus und hält in umklammert. Anschließend taucht er hinab. Nach Sekunden, in denen nur Luftbläschen von seiner Anwesenheit zeugt, durchbricht er nach Luft schnappend wieder die Oberfläche des Sees. Das alles war ein gescheiterter Selbstmordversuch, denn Anders ist zutiefst verzweifelt. 34 Jahre alt, verbrachte er seine letzte Zeit in einer Entzugsklinik, wo er nach Jahren des Drogenkonsums wieder resozialisiert werden soll. Gerade der jetzige Tag spielt eine wichtige Rolle, da er sich mit seiner entfremdeten Schwester treffen will und ein wichtiges Bewerbungsgespräch vor sich hat. Anders begibt sich in die Innenstadt. Diese wenigen Stunden können alles entscheiden.

Jene Ausgangssituation ist die Grundlage für den zweiten Langfilm des norwegischen Regisseurs Joachim Trier nach seinem beeindruckenden Debüt "Reprise" (2006), welches sich bereits mit ähnlichen Themen beschäftigte. 5 Jahre später orientiert er sich lose an Pierre Drieu La Rochelles Roman "Le Feu Follet", der bereits 1963 von Louis Malle adaptiert wurde. Allerdings hat mich das "Das Irrlicht" damals nicht wirklich ansprechen können. Woran es genau lag, kann ich nur mutmaßen: vielleicht war Maurice Ronets Figur zu alt, sodass mir jegliche Identifikation schwerfiel. Irgendwie nahm ich die ganze umgebene Szene in Paris als sehr prätentiös wahr, was jedoch auch die Hauptfigur miteinschloss. Dennoch gab es manche wehmütige Momente, die mich nachhaltig beeindruckten. Mit "Oslo, 31. August" (2011) verhält es sich anders. Hier lässt mich bereits die Eingangssequenz nicht mehr los. Bestimmt lag es auch an der von Anders Danielsen Lie genial zurückgenommen verkörperten Figur. Anders Augen sind glasig vor Verzweiflung, sein Aussehen an sich wirkt eher jugendlich. In den Gesprächen mit einstigen Freunden entfalten sich Lebensentwürfe, die zwar möglich, aber für Anders nicht durchführbar sind. Sein früherer Kommilitone ist inzwischen Vater von zwei Kindern, im Stress zwischen Erziehung, beruflichen Verpflichtungen und Rückenschmerzen. Er wirkt selbst nicht völlig zufrieden, akzeptiert seine Lebenswirklichkeit aber. Anders kann auch er nicht helfen. Weder Schopenhauersche Zitate noch Bekräftigungen, dass es auch wieder aufwärts gehen wird, zeigen ihre beabsichtigte Wirkung. Trotz der Intimität zwischen ihnen ist eine Entfernung spürbar, die zeigt, dass Anders nicht mehr zu erreichen ist. Alleine hier finden sich zahlreiche Momente großer Bitterkeit und Wehmut.

Dass Anders selbst keine unschuldige Person ist, wird sehr bald offensichtlich. Seine Eltern müssen aufgrund der angehäuften Schulden ihr Haus verkaufen. Seine Schwester hat er einmal mehr versetzt, während er ihre Lebensgefährtin anlügt. Die nähere Familienmitglieder sind komplett abwesend, hängen aber wie Geister über den Ereignissen, die Anders heimsuchen. Indem es Anders nicht möglich ist, sich mit ihnen auszusprechen, werden seine Schuldgefühle weiterhin genährt. Seiner Vergangenheit kann er nicht entfliehen, wie ein Loch, auf dass er sich stetig zubewegt. Weiterhin wird erwähnt, dass er immer wieder die Leute in seinem Umfeld verletzt hat, sodass die sich von wohl oder übel von ihm entfernen mussten, um sich selbst zu schützen. Sogar zum Stehlen verleitet es ihn letztlich. Die Figur des Anders könnte kaum facettenreicher dargestellt werden. Aufdringlich ist hierbei nichts. An sich ist die Geschichte so realistisch, dass sie auch von den Dardenne-Brüdern hätte inszeniert sein können. Doch Joachim Trier findet ganz zu sich und erweitert den Fokus von der Hauptfigur auf die heutige Zeit. Es ist ein Zeitalter des Überflusses, der Unsicherheit, der Verwirrung und der Orientierungslosigkeit. All das fängt Trier im Bild einer Stadt, wenn nicht gar einer Generation ein. Anders ist nur einer von vielen. Und es gelingt dem Film im womöglich memorabelsten Moment (einer Fahrradtour durch die Nacht, begleitet vom irrealen Dunst eines Feuerlöschers bis zum Morgengrauen) die ganze Sehnsucht einer vergangenen Zeit zu fassen. Sensucht nach einem früheren Ich, an welches sich nicht mehr anknüpfen lässt. All das transportiert " "Oslo, 31. August" auf unfassbar intensive Weise und ich würde persönlich nicht übertreiben, wenn ich feststelle, dass dies wahrscheinlich mein liebster Film der letzten zehn bis fünfzehn Jahre ist.


                                                                10 / 10

Autor: DeDavid

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen