Mittwoch, 16. August 2017

Licht im Dunkel? - Kritik: La ciénaga (2001)

Gleich mit den ersten Sekunden von Lucrecia Martels Debut wird eine lauernde, erstarrte, bedrückende, ambigue Atmosphäre heraufbeschworen. Zweideutig, weil: Die Welt scheint nicht im Gleichgewicht; doch ist wirklich irgendetwas schief, oder sind es bloss diese Blicke der Kamera, die bedrohlich wirken; Blicke, welche die Welt erst aus dem Gleichgewicht heben. Es ist schwül, ein enormer Regen kurz vor dem Ausbruch. Genauso verhält es sich mit dieser Gruppe an Personen, die wir da sehen: Es braucht nicht viel, einen Tropfen nur, und alles könnte explodieren, so fürchten wir, die potentielle Energie ist am Limit. Wir warten aufgeregt und furchtsam auf ein Ereignis, das einen Konflikt, den wir spüren, plötzlich, mit einem Knall, durchbrechen und uns aufatmen lässt. Eine Frau lässt ein Glas fallen, fällt hin, die Scherben graben sich in ihre Brust ein: ist das alles? Es scheint nicht so schlimm, wie befürchtet und ist das erste einer Reihe von Ereignissen verstreut über den Film, alle „unheilvoll“ (oft sehen wir Blut) aber dennoch klein, alltäglich. Eine Rauferei, ein kleiner Unfall, usf.
Die Personengruppe: zu Beginn kennen wir sie nicht; keine Ein- und Vorführung erleichtert uns den Einstieg, wir werden desorientiert (stattdessen, wird eben die Atmosphäre aufgebaut) – und trotzdem kennen wir sie sofort, trotzdem erscheinen sie uns so sehr aus Fleisch und Blut wie nur möglich, authentisch, und irgendwie vertraut, auch dank der extrem naturalistischen Tonspur, dank den Stimmen, oft aus dem Off, die sich herauskristallisieren.


Und trotz dieser bedrückenden Atmosphäre ist „La Cienaga“ kein bedrückender Film. Wir finden darin viele lebensbejahende, geradezu überschwängliche Elemente. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass der Film voll von Kindern, Jugendlichen, echter Jugend oder beschworener Jugend ist (ein oft betrunkener Vater, dem der Film und die andern Charaktere kein gutes Zeugnis ausstellen, färbt seine Haare); oder es hängt zusammen mit den Tanzsequenzen. Tanzsequenzen im Film sind meistens voll positiven Drang, voll Anmut, Lichtpunkte in einer oft düsteren Umgebung, und gerade in diesem Umstand liegt ihre Tragik; deshalb sind sie trotz der Wärme und Freude, die sie verströmen, gerade auch die traurigsten Momente im Film; auf die Spitze gebracht wird das wohl mit der berühmten Schlussszene aus „Beau Travail“. Die zweite Tanzsequenz hier, ekstatisch gefilmt, schlägt über in eine Rauferei, in eines dieser unheilvollen Ereignisse, und bringt damit diese ihnen innewohnende Ambiguität zum Ausdruck. Die erste Tanzsequenz ist es aber, die den grössten Optimismus ausströmt, eine Insel an melancholischer Freude, die viele Charaktere miteinander verbindet und die „Fallhöhe“ umso vergrössert.


Lebensbejahend sind auch die Charaktere und die Art, wie diese gefilmt und aufgenommen werden. . Die vielen Kinder – damit einher gehen Hoffnung, Liebe, Kraft, Tanz, Neugier, Unschuld. Wir sehen aber durchaus auch grausame Charaktere, zwei argentinische Mittel- bis Oberschichtsfamilien, bei denen sich eine rassistische Einstellung gegenüber denn „Indios“, die als Haushälter beschäftigt werden, sich über alle Generationen erstreckt. Dennoch: man hat Lust, die nächste Zeit mit diesen Personen zu verbringen, die so rund, und damit eben lebensbejahend gezeichnet werden, wie nur möglich. Die Kamera ist oft extrem nah, wir sehen Fragmente der Körper, aber: wir sehen auch scheinbare Hintergründe, schillernd, schimmernd: Wie aufmerksam werden Texturen wie Wände oder Naturfiguren von der Kamera abgetastet! Die Fragmente erscheinen nicht mehr als Fragmente, sondern verschmelzen mit ihrem Umfeld. Auch diese enge Beziehung zwischen Mensch und Umfeld wird dadurch lebensbejahend, trotz der Bedrohung, die sowohl von der Natur und von Tieren, als auch vom Mensch auszugehen scheint. In dieser Hinsicht gleicht der Film zum Beispiel Bruce Baillies Tung oder vor allem Valentin de las Sierras: gerade im Bruchstückhaften, im Auslöschen der Hierarchie von Vorder- und Hintergrund, von Schärfe und Unschärfe liegt das Schöne.

Nur erschöpft sich der Film etwas nach etwa der Hälfte oder zwei Drittel. Vielleicht liegt es daran, dass wir dann beginnen zu erkennen, „wer wer“ ist, wie sich die Familienmitglieder zueinander verhalten, dadurch geht etwas an Ambiguität, am Unerklärlichem, das den Film prägt, verloren. Man könnte sich wünschen, dass sich die psychischen Beziehungen zwischen den Figuren im Laufe des Films mehr verschieben und immer wieder neue Anordnungen ergeben. Doch vielleicht liegt auch gerade in dieser Statik eine Stärke des Films, die dieser Welt den Charakter der Unentrinnbarkeit, des Fatalismus verpasst.


++
Autor: Cameron

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