Mittwoch, 30. Januar 2019

Kritik: An Elephant Sitting Still (2018)

An Elephant Sitting Still von Hu Bo beginnt weiß, im Schnee, und endet schwarz in tiefer Nacht. Es ist ein Film des Binären, des Gesetzten und Unfreien, der die Möglichkeit von Zwischentönen ausschließt. Aber interessanterweise kennzeichnet das Schwarz des Endes nicht die totale Depression, sondern eine Utopie. Im Schwarz findet sich, zum ersten Mal nach vier Stunden, eine Gemeinschaft. Es kennzeichnet ein Streben, einen Sinn; das Weiss birgt hingegen keine transzendentale Verklärung, sondern schildert das blutleere Leben, in das die vier Hauptcharaktere geworfen werden.
Alles ist in diesem Film zum Extrem getrieben, Nuancen gibt es nicht; das Blutleere rührt von der Unmöglichkeit von Verständnis, das sich Menschen in dieser Welt gegenüberbringen können. Dies bildet die Grundlage des Films, der mich in dieser Hinsicht etwas an Elias Canettis Die Blendung erinnert: entweder verstehen sich die Charaktere nicht, weil sie einander derart entfremdet sind, oder sie verwirren sich in Missverständnisse und falsche Annahmen. Diese führen in entgegengesetzte Richtungen: einerseits zu Eskalation, die wiederum nur falsch interpretiert werden wird, andererseits zu totaler Gleichgültigkeit, die gar nicht interpretiert werden kann. Eskalation ist hier aber nur ein Ausdruck der totalen Gleichgültigkeit, ihre Verdinglichung. Sie ist zwingende Folge fast jeder Szene; wir sind in einer Gesellschaft, deren Grundrisse verrückt, dessen bindende Stricke überspannt sind, deren Teile nicht mehr aufeinander passen.
Der Film bombardiert uns mit diesem Thema, das nicht nur strukturell in den Film eingebettet ist, sondern auch ausgesprochen wird: „Ich kann dich nicht verstehen, und du kannst mich nicht verstehen“ sagt eine Frau zu ihrem potentiellen Liebhaber namens  Cheng, der einer der vier Protagonisten darstellt. Beziehungen funktionieren nicht, innerhalb als auch zwischen den Generationen: als Liebesbeziehung nicht (die gerade erwähnte endet im Zerwürfnis, eine andere im öffentlichen Skandal, eine dritte in Selbstmord), als freundschaftliche Beziehung nicht (die einzige im Film gezeigte Freundschaft zwischen zwei Schülern ist eine Katastrophe und endet ebenfalls in Streit und Selbstmord), und als familiäre Beziehung nicht. Da gibt es das vergiftete Verhältnis von Schüler Wei Bu zu seinem Vater, der ihn als Nichtsnutz sieht und ihm unterstellt, Geld zu stehlen; und Ling und ihre Mutter, die sich nicht um die desolate Wohnung kümmert. Oder der pensionierte Wang, der von seinen Kindern in ein Wohnheim abgeschoben wird, rücksichtslos und ohne Versuch, sich in dessen Lage einzufühlen (Die Bindungen zwischen Wang und seiner Enkelin, die ihn begleitet, sowie diejenige zwischen Wei Bu und seiner verstorbenen Grossmutter bilden eine Ausnahme. Sie suggerieren, dass das Verhältnis über zwei Generationen hinweg funktionieren kann).

Die Hauptfiguren, und mit ihnen die jeweiligen Generationen bekommen wir nur in zweierlei „Funktionsweisen“ zu sehen, ausserhalb derer sie nicht agieren können. Entweder werden sie fälschlicherweise beschuldigt, und ohne tatsächlichen Grund von ihrem Umfeld in die Enge getrieben, oder (und als Folge davon) die Situation schlägt in ihre Gegenteil um, wir erleben sie als Täter; die Kette der „Wahrheitsverrückung“ weiterspinnend wirken sie destruktiv auf ihr Umfeld ein, mit grundlosen Schlägen oder absurden Schuldzuweisungen. Hu Bo gibt sich hier besonders zynisch: als einziger Gegenpol zu Obrigem ist Wei Bu von der Unschuld seines Freundes überzeugt, der bezichtigt wird, ein Handy eines Mitschülers geklaut zu haben – doch erweist sich diese Unschuldsvermutung als falsch. Wir folgen einer Spirale in die Tiefe, an deren Ende sich die Schuld- und Wahrheitsfrage erübrigt; wie sie auch betrachtet wird, die – empfundene – Sinnlosigkeit des Lebens bleibt bestehen.
Dennoch verschwindet Trost nicht ganz von der Bildfläche. Wir finden ihn zunächst in den langen Einstellungen, in denen die Kamera den umherwandernden Personen folgt, und die immer wieder mit Musik unterlegt sind. Die Musik suggeriert hier einen Gegenpol zum Dyptich von Eskalation und Gleichgültigkeit, nämlich den der Akzeptanz. Nur in der Akzeptanz ihrer Gleichgültigkeit bzw. ihrer Verstrickungen in Ungerechtigkeit finden wir mit den Charakteren so etwas wie eine lebensbejahende Kraft. Die Musik, nicht nur als Zuckerguss die Bilder umhüllend, sondern auch in den Köpfen der Personen abspielend, die wir gerade folgen (zumindest lässt sich das leicht vorstellen), begünstigt gerade in ihrer Künstlichkeit die Loslösung der Charaktere ihrer selbst, die eine Voraussetzung der Akzeptanz darstellt; sie bewirkt mit sanfter Geste die Einordnung des Geschehens in einen kosmischen Zusammenhang und somit das mit sich ins Reine Kommen der Figuren. Sie setzt ein, manchmal während einer Eskalation, manchmal danach, und de-eskaliert; sie übernimmt den Schwung der Eskalation und benützt ihn zur Möglichkeit eines Perspektivenwechsels. Eine der eindrücklichsten, unvergesslichsten Passagen des Films ist jene gespenstische Szene, bei der die Kamera mit Wang das Altenheim, in das ihn seine Kinder abschieben wollen, besichtigt, und irgendwann vollends seine Perspektive einnimmt: in einer endlos fliessenden Einstellung gleitet sie über die Insassen hinweg, die in Trostlosigkeit zu versinken drohen; doch die elektronische Musik hievt uns über blosse Tristesse hinweg und deutet auf das Einfinden dieser Insassen mit ihrem Schicksal.


Für grosse Teile des Films bleibt die Kamera äußerst nahe am Gesicht der Hauptfiguren – egal ob sie diese von vorne oder von hinten betrachtet, der Rest der Welt, die ungenannte Stadt in Nordchina, die den Schauplatz abgibt, bleibt unscharf, kommt nie in den Fokus. Dies korreliert mit dem Eingenommensein der Personen ihrer selbst, ihrem Eingeschlossensein und – wortwörtliche – Perspektivlosigkeit, und selbst bei den zahlreichen Eskalationen (Selbstmord von Freunden, Tötung eines Hundes, Schlägereien etc.) verharrt die Kamera bei einem Gesicht. Erst gegen Ende lockert sich dieses Muster ein wenig auf, wir sehen auch mal mehrere Personen gleichberechtigt im Bild, wir sehen tableaux vivants, und die letzte Einstellung zeigt die Figuren, die sich auf den Weg gemacht haben, einen Elefanten zu besichtigen, der in einer abgeschiedenen Stadt stets reglos dasitzt, stillsitzt, von extremer Ferne, in völliger Dunkelheit. Es ist wiederum die Loslösung von den Figuren, das Verlieren von unmittelbarer Information, das optimistisch stimmt, das den Ausweg und das Finden einer Gemeinschaft ermöglicht: in der Distanz erst wartet die Nähe.

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Autor: Cameron
(Diese Kritik erschien zuerst bei Jugend ohne Film:http://www.jugendohnefilm.com/die-blendung-an-elephant-sitting-still-von-hu-bo/ )

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