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Mittwoch, 26. September 2018

Film als Widerspruch - Kritik: Esther Kahn (2000)

Arnaud Desplechins Esther Kahn ist ein Film der Widersprüche. Der augenfälligste davon: Es ist zugleich ein universeller und ein spezifischer Film. Universell, also allgemein gültig, weil sein Thema eines ist, das zu uns allen spricht, weil es jedermann betrifft, weil wir uns jeden Tag damit befassen müssen. Wie soll ich älter werden? Wie werde ich erwachsen? Vor allem auch: Wie erschaffe ich meine Persönlichkeit? Die Fragen, die der Film bezüglich seiner Protagonistin in jeder Szene stellt, sind so breit, so zeitlos wie möglich. Wie muss ich auf die Welt reagieren? Wie muss ich handeln? Muss ich überhaupt irgendetwas tun? Damit geht die Frage einher, was eine Handlung ist. Diese Frage wird im Film direkt angesprochen, als Esther Kahn, aspirierende Bühnenschauspielerin, von ihrem Mentor erklärt bekommt, was es bedeutet, zu schauspielern. Diese Fragen loten das Verhältnis vom Individuum zur Gesellschaft aus, den ewigen Kampf, Eingang ins Leben, in die Umwelt zu finden, den dieses Verhältnis mit sich bringt. In dieser Hinsicht können wir uns alle mit dem Film respektive seiner Hauptfigur identifizieren.
Spezifisch ist der Film wegen seiner Detailversessenheit. Zeitpunkt und Ort sind so exakt umrissen, dass er nur genau dann und dort derart stattfinden könnte: jüdische Immigranten, Schneiderfamilie, im Londoner East End, um das Jahr 1900. Und obwohl die Figur der Esther Kahn eigentlich so nachvollziehbar, so bekannt weil in uns selbst angelegt wäre, wird sie so präsentiert, als sei sie eine Ausserirdische. In Arthur Symons gleichnamiger Kurzgeschichte, die im Film oft als erzählerisches Voice-Over zitiert wird, heißt es: „[Esther Kahn’s] whole face seemed to await, with an infinite patience, some moulding and awakening force, which might have its way with it. It wanted nothing, anticipated nothing; it waited. Only the eyes put life into the mask, and the eyes were the eyes of the tribe; they had no personal meaning in what seemed to be their mystery; they were ready to fascinate innocently, to be intolerably ambiguous without intention; they were fathomless with mere sleep, the unconscious dream which is in the eyes of animals.“

Die Identifikation wird neutralisiert durch Entfremdung; erstens durch das Ansiedeln der Handlung in einem fernen und hermetischen Milieu, zweitens durch das Abgrenzen der Hauptfigur, ihre Nichtangepasstheit an dieses Milieu (Geschwister, Eltern, Rabbiner, sämtliche sozialen Kontakte), und drittens durch die Nichtangepasstheit an unsere Jetztzeit; an grundsätzlichen Gepflogenheiten, Umgangsformen, die in allen Kulturen dieselben sind und erwartet werden: beispielsweise Reaktion, irgendeine Reaktion, auf Impulse der Umwelt.
Dieser Nonkonformismus ist motiviert weniger durch jugendlichen Widerstand gegen das Umfeld oder eine besondere, ausgefuchste Schlauheit (sie wird als „neither clever nor stupid; but inert“ beschrieben) als durch Esthers Ratlosigkeit, durch ihre Nicht-Identifikation, durch Unverständnis ihm gegenüber; durch das Nicht-Sollen-Wollen; das bedeutet gerade auch Eigenständigkeit, die ihr von allen stets abgesprochen wird, und eine fragile Würde. In einer parabelartigen Szene zu Beginn, als die Kinder der Familie zu Bett gehen, wird Esther von ihrer Schwester gefragt, auf welche Eigenschaft sie besonders Wert legt. Sie zögert; die eine Schwester sagt, auf ihre Schönheit, die andere, auf ihre Intelligenz, der Bruder möchte reich werden. Esther findet keine Antwort. Dass sie später das Theater und das Schauspielern als ihre „Domäne“ entdeckt (ironischerweise gerade sie als permanent anti-performative Lebenskünstlerin), wird nicht, wie zu erwarten, als Katalysator zu einer groß angelegten Persönlichkeitsentwicklung verwendet. Der Konflikt zwischen ihr und der Umwelt persistiert.
Die Figur Esther Kahn erscheint uns deshalb bizarr, losgelöst, distanziert; aber auf warme, sensible Art. Nicht nur wird uns damit die Möglichkeit gegeben, sie zu hinterfragen, sondern auch uns selbst. Vielleicht nur, weil ich kurz zuvor Ordet gesehen habe, aber: Esther Kahn scheint mir in gewissen Dingen ähnlich Dreyers Film. Beide Filme distanzieren uns mit der gleichen Geste, mit der sie uns zu sich holen. Dreyers Einstellungen beschwören eine losgelöste, zeitlose Welt, die wir durch einen Guckkasten betrachten, die aber aus unserem Innersten zu kommen scheint, uns so unergründlich bekannt wie ein längst vergessener Traum. Alle Figuren in Ordet, selbst der „verrückte“ Johannes, erscheinen uns logisch und authentisch; in Zeitlupe können wir die entstehenden, unvermeidbaren Konflikte betrachten, vergleichbar heranziehenden, unheilvollen Wolken, Resultat kollidierender innerer Wertesysteme. Überhaupt sind der sich selbst als Jesusfigur sehende Johannes und Esther Kahn einander ähnlich, trotz ihrer Gegensätzlichkeit; unfreiwillig apart vom Rest der Gesellschaft stehend, als Reaktion letzterer auf ihren unter- (Esther) respektive übertriebenen (Johannes) Willen, ihre Person zu erfinden; das heißt ihrem Nicht-Mitgehen des Weges, der für ihre Persönlichkeiten von der Gesellschaft vorgesehen ist.
Die Vorgänge beider Filme bezeugen wir wie durch ein hermetisch abgeschlossenes Reagenzglas, wie eine chemische Reaktion, obwohl Esther Kahn filmisch ganz andere Mittel anwendet als Ordet. Ein sinnlich-impressionistischer Stil herrscht vor. Es konfrontieren uns, durch Handkamera, Realitäts-Schnipsel, Fragmente, in Großaufnahme, ein bisschen wie in Bruce Baillies Valentin de las Sierras. Diese Schnipsel, die uns außerordentlich nahe ans Geschehen, an Details heranbringen (und Details, Handgelenk, Wange, werden in der ersten Hälfte des Films oft noch besonders betont durch den Einsatz von Irisblenden) lassen uns auch etwas verloren zurück, zerbröseln die Realität, die wir uns nochmals neu zusammenbasteln müssen. Arthur Symons schreibt in seiner Geschichte: „Sometimes, when [Esther] had been watching [her family] until they had all seemed to fade away and form again in a kind of vision more precise than the reality, she would lose sight of them altogether, and sit gazing straight before her, her eyes wide open, her lips parted.“ Dieses ständige Push and Pull wird eigentlich den ganzen Film über praktiziert; in einer genialen Szene wird dieser Satz aber wortwörtlich umgesetzt, als wir sehen, wie Esther die Familie betrachtet, und verschiedene Familienszenen sanft überblendet werden, sich tatsächlich zu einem großen, multidimensionalen Puzzle formend, das Universelle und das Spezifische vereinend.


++
Autor: Cameron

(Kritik erschien auch bei Jugend ohne Film: http://www.jugendohnefilm.com/esther-kahn/ )

Mittwoch, 27. April 2016

Verheerendes Liebesviereck - Klassiker der Extraklasse: Michael (1924)



Was nach Dreyers Michael, einem Stummfilmdrama über einen Maler und dessen Beziehung zu seinem titelgebenden Modell und Ziehsohn, am meisten übrigbleibt, sind die Räumlichkeiten. Beinahe der gesamte Film spielt im Haus des Malers (das wir nie von außen sehen), seinen scheinbar riesigen Saälen und Salons, ausgestattet  mit exquisiten Skulpturen, Springbrunnen, Sesseln und Bildern. Dreyers Schwerpunkt auf Raum kommt auch deshalb so zur Geltung, weil er diese Salons in enormen long shots zeigt, mit hoher Tiefenschärfe, und seine Bildkompositionen in die Tiefe staffelt. Die Personen befinden sich oft in der hinteren Hälfte des Bildes, zu kleinen Gestalten marginalisiert, in die sie umgebende Innenräume eingesunken, von ihnen eingelullt; verloren und hilflos stehen sie dort umher:


So auch bei dieser Komposition, die beinahe aus einem Hou Hsiao-Hsien-Film stammen könnte.

In diese Totalen werden dann Großaufnahmen geschnitten, die uns unwillkürlich an die Charaktere heranbringen, damit wir nicht einen Blick oder eine Geste verpassen:
Schnitt zu:

Hier wird auf die Person geschnitten, die am weitesten hinten im Bild zuvor steht (rechts), um deren Interesse an der Frau des soeben eintretenden Ehepaars zu signalisieren. Überhaupt ist insbesondere die erste Hälfte des Filmes, die ein einigermaßen komplexes Personen- und Beziehungsgeflecht einführt, eine einzige Folge von flüchtigen oder/und vielsagenden Blicken. Mit diesen Blicken, die aufeinander folgen, werden uns diese Beziehungen, das Werben der Charaktere umeinander, nahegeführt. Dennoch können diese Blicke ambigue sein, dass sie also mehrere Interpretationen über die Motivationen der Charaktere zulassen. Ich will das am folgenden Beispiel verdeutlichen:
Als die Prinzessin, die ihr Portrait vom Meister gemalt haben will, in den Salon eintritt, und vom Diener zugleich uns (der Kamera) und den sich im Raum befindenden Maler und Michael präsentiert wird,


sehen wir, wie Michael sie zunächst intensiv begutachtet:

Dann schaut er zur Seite, zum Meister. Die Natur seines Blicks wechselt, wird skeptischer:

Dieser Blick – ein Zeichen der Eifersucht, doch wem gegenüber? Michael könnte sich fürchten vor der Zuneigung der Prinzessin gegenüber dem Maler, da er sie für attraktiv befunden hat und für sich beanspruchen will. Oder gilt der böse Blick eher dem Maler, der seine Aufmerksameit nun nicht mehr ihm, sondern der Prinzessin zuwendet? Michael, mit dem der Maler offesichtlich auch eine amuröse Beziehung verbindet (so wird durch mehrere Gesten und liebevolle Berührungen angedeutet)  wird später meinen: „so hat er mich nie behandelt“. Dennoch lüstet es ihn nach der Prinzessin, auch diese beiden werden später eine nicht nur angedeutete, sondern offen gezeigte Liebesbeziehung pflegen (die dann diejenigige zwischen Michael und Meister zerstört und somit die Tragödie einläutet – der Film ist überhaupt eine männliche Version von Fassbiders` „Petra von Kant“).
Diese Abhängigkeit von Blicken, die den Film prägt und aufbaut, machen ihn zu einem puren Stummfilm, der mit Ton undenkbar wäre. Ton wäre nicht nur unnötig, sondern würde ablenken – die Bilder füllen genug „Raum“ aus.
Ausgesprochen oft kommt die Großaufnahme auf ein Gesicht zum Einsatz. Während Michael und die Prinzessin dabei immer wieder posierend zu sehen sind, sich für den anderen inszenierend, bleibt der Meister mit stoischem Gesichtsausdruck, selbst nachdem ihm schlimmste Nachrichten überbracht worden sind. Er nimmt die Abwendung Michaels von ihm hin und klammert sich an seiner Liebe zu ihm fest. Sein bestes Bild, das er Michael geschenkt hat und dieser sorglos verkauft hat, lässt er wieder aufkaufen um es ihm von neuem zu schenken –„Der Preis spielt keine Rolle“. Dabei nimmt er die Zuneigung des Journalisten und Kunstkritikers Switt entweder nicht wahr oder beschließt, sie zu ignorieren. Switt und Michael sind Gegenspieler, quasi Nebenbuhler um des Meisters Liebe; deren „Duell“ wird mit einmal mit einem äußerst intensiven Blick- und Schnittduell ausgetragen.
Der Meister hingegen wird nur selten in solche shot/reverse-shot-Sequenzen eingegliedert; viel häufiger starrt er in einem Gespräch mit einer anderen Person in die Luft oder auf ein Bild von ihm. Exemplarisch dieses Gespräch zwischen Switt und dem Meister; ersterer teilt ihm etwas mit

 worauf er nur noch stoischer auf seine Arbeit schaut

Das Liebesviereck Switt-Meister-Michael-Prinzessin wird durch eine Nebenhandlung ergänzt, welche die Haupthandlung spiegelt oder zuweilen kommentiert. Unter den Gästen im Hause des Malers befindet sich ein Herzog, der sich in die Frau eines aristokratischen Ehepaares verliebt (siehe dazu die Bilder am Anfang des Artikels) – das Duell zwischen Ehemann und Nebenbuhler wird hier aber mit echten Waffen ausgetragen. Wobei am Ende die Differenz nicht groß ist – beide dieser Liebesintrigen verlaufen schließlich verheerend.


 8.5 / 10


Autor: Cameron

Dienstag, 15. Oktober 2013

Über despotische Ehemänner und leidende Hausfrauen - Klassiker der Extraklasse: Du sollst deine Frau ehren (1925)




»I´m mistress here now! Do you understand?« - Dieser Dreyer wieder! In den kann man sich doch nur verlieben! Ab jetzt schlägt auch ein Teil meines kleinen Herz für ihn und seine Filme, die man selbst mit großen Worten nicht einmal exakt klassifizieren könnte. Was als eine große Weitsichtigkeit seiner Werke angesehen werden kann. Da gibt es thematische Genreverstrickungen und Überschneidungen. Grenzen, die gesprengt werden! Solch ein Gefühl überkam mich zumindest als ich Dreyers »Du sollst deine Frau ehren« aus dem Jahre 1925 genauer unter die Lupe nahm, nirgendwo wollte er reinpassen oder sollte er reinpassen, weder im einzelnen als Drama noch Komödie, vielleicht ist auch als Satire gedacht. Wenngleich die Handlung von Dreyers Werk wohl eher auf eine Komödie spekulieren lässt, einer Familiengeschichte: In der die arbeitstüchtige Frau von ihrem fast schon despotisch regierenden Gatten unterdrückt wird, bis das alte Kindermädchen einschreitet, die Dame erholen lässt und den Herrn des Hauses erneut erzieht und ihn die vielzählige Aufgaben seiner geliebten Frau vor Augen führt.




Das hatte sich der Dreyer clever erdacht. Denn irgendwie reflektiert er doch so passend den zeitlichen Realismus und revolutioniert! Was wohl? Das Kino. Denn auch Herr Dreyer darf als einer der ersten die Frau kraftvoll emanzipieren, was hier sogar im mehrdeutigen Gewand anzutreffen ist, da Dreyer einerseits die Bedeutung der Frau und ihrer häuslichen Arbeit schildert, andererseits sie im Verlaufe der Geschichte dominieren lässt gegenüber dem Manne (in Form des Kindermädchens). Im Grunde könnte man Dreyers Film so auch in erster Linie als authentisches Familienporträt sehen, in der Dreyer die familiäre Stellung und Situation präzise schildert und durchweg nuanciert analysiert. Die klassische Familie mit Mutter, Vater und drei Kindern, einem Jungen, einem Mädchen und einem Kleinkind. Vielleicht ist das doch nicht so klassisch. Die Mutter leidet unter der Repression ihres Mannes, welcher aus der Freude der Frau an der Hausarbeit seine höchst kritischen Ansprüche stellt, während er (wie es auf den ersten Blick scheint) ruhen und seinen Egoismus pflegen darf. Immerhin verdiene er ja das Geld. Nichts scheint ihm zu genügen, überall muss seine Frau getadelt werden, kein Dank pflastert seine Lippen, die Frau ist gedemütigt. Der Mann, der Haustyrann: »Brute!«

 Selbst die Kinder stellt er in die Ecke, aus erzieherischen Gründen, damit sie sich bessern. Es ist faszinierend wie intensiv und wie durchdacht dabei Dreyer seine Geschichte aufbaut und konstant strukturelle Tiefe erzeugt - und das bereits im Jahre 1925! Insofern beeindruckend, wie er sie erzählt und ja um erneut dies zu betonen, was er erzählt. Technisch hervor sticht dabei der (scheinbare) Kammerspiel-Effekt, den Dreyer durch den direkten Fokus auf die Wohnung der Familie bestärkt, selten gibt es Außenaufnahmen, Dreyer beschränkt den Raum und nimmt die Details ins Auge. Er nutzt geschickt Detail- und Nahaufnahmen zur intensiveren Auseinandersetzung und erzeugt dabei eine rundum stimmige Dynamik zwischen den Bildern. Er ermöglicht so gleichzeitig auch ein erweiterten Blick auf seine Charaktere, die von Dreyer differenziert gezeichnet werden - auch gegen die Erwartungshaltung der Geschichte selbst, doch wie gesagt Dreyer ist in seiner Virtuosität nicht zu unterschätzen.




Wenn der Manne (großartig: Jonathan Meyer) nun man eigenen Leibe die Erniedrigung zu spüren bekommt verdichtet sich das Charakterbild. Der Mann bleibt nicht nur ein eindimensionaler Tyrann, sondern wie jeder von Dreyers Figuren ein Mensch und hart arbeitender Vater, der versucht seine Familie so gut wie möglich durch zubringen und somit seinen Frust seiner Familie präsentiert. Er ist besorgt um Geld und Finanzen. Daraus resultiert sein Verhalten der Frau gegenüber, die sich dieser Tatsache bewusst ist und so ihrem Mann stets versucht es ihm Daheim recht zu machen, doch begibt sie sich somit in ihrer aufopferungsvollen Fürsorge an den Rande des Nervenzusammenbruchs. Die Mutter braucht eine Zeit der Ruhe. Während ja (ich rekapituliere hier oft den Rahmen) das Kindermädchen die Führung übernimmt. Gerade wenn dies eintritt lassen sich seitens Dreyer durchaus auch einige humoristische oder satirische Momente finden. Dreyer macht das sehr hintersinnig, denn er verwendet auch Metaphern, welchen dahingehend im weiteren Sinne eine besondere Wirkung zugesprochen wird, ob das weinende Kind als Symbol des Unfriedens, der Unzufriedenheit und des Abbruches der Familienidylle oder die (wieder) tickende Kuckucksuhr (samt Herz) als intakter Rhythmus des Familienlebens oder anders gesagt das Herz, das wieder schlägt. Die Harmonie kehrt zurück. Auch wenn man letztlich ebenso davon ausgehen kann, dass Dreyer mit doppelten Boden arbeitete, da ist Aufmerksamkeit geboten. Zumindest die letzten Worte lassen - trotz menschlicher Wärme und Einklang - skeptisch zurück.



8.0 / 10

Autor: Hoffman

Donnerstag, 25. Oktober 2012

Eine Reise in die Welt der Schatten - Klassiker der Extraklasse: Vampyr - Der Traum des Allan Grey




Wie lässt sich ein solcher Film nur beschreiben? Geboren zwischen Zeit der großen Stummfilme und der Zeit des Tonfilms. Gefangen in einer Zwischenwelt, weder geboren noch gestorben. So zumindest mutet Carl Theodors Dreyers (mein neuer, dänischer Heiliger) »Vampyr« aus dem Jahre 1932 an. Irgendwo dazwischen. Eine wirkliche Einordnung wird ihm weder im Genre gerecht noch in der Klassifizierung seiner Gattung. Heute wie damals. Damals nur als Misserfolg, heute als Meilenstein des klassischen Horrorfilms, wie auch neben Murnaus »Nosferatu« (1922) als Definitionswerk des Vampires. Außerdem Dreyers erster Tonfilm, dabei ertönt dieser hier selbst nur selten? Und wenn: Unbedeutend, unkenntlich, missverständlich und fragmentarisch. Für Dreyer verliert das Wort - wie ironisch auf sein Schaffen bezogen - an jeglicher Bedeutung und erscheint so mehrfach als irrelevant.

Ist denn überhaupt ein Wort von nöten, fragt Dreyer? Ein unkonventioneller Leitgedanke in seiner zeitlischen Einordnung, also zu sehen als begraben. Und enthüllt und das nicht irgendwie ein gewisses Vampirmotiv als Reflexion? Clever. Der Stummfilm überlebt den Tonfilm. Alt trifft auf neu und Dreyers Werk ist verschlungen von der Zeit. Als ewiges Rätsel wie auch als eigenwilliges Artefakt mit seinen eingeblendeten Texttafeln, statt dem Worte oder Dialoge. Nur flüstern und wispern. Verzerrt. Unwirklich. So sind es demnach die Bilder, die Dreyer sprechen lässt. Die rauschenden, verdichtenden, undurchsichtigen Bilder, die es zu entschlüsseln gilt - wenn überhaupt möglich - hellklar und doch so nebelig und in seiner Intention mysteriös. Man muss nicht lange suchen um zu bemerken, dass sich hiermit Dreyer auf den Expressionismus beruft (inklusive seiner grotesken Anleihen) und somit eine selten intensive, befremdliche Stimmung schafft, als würde über seinem Werk ein unheilvoller Schleier liegen. Subtil experimentiert Dreyer, entführt und begibt sich auf eine Reise in die Dunkelheit, fasziniert aber mit seinen Möglichkeiten.



Schon der deutsche Beititel deutet Surrealismus an, Dreyer wechselt unentwegt zwischen Alptraum und Traum und mittendrin sein Protagonist, der Student Allan Grey - auf der Durchreise in einer fremden Stadt, genannt Courtempierre. Die Geschichte ähnelt einer vergangenen Volkssage . Es kommt nicht nur so vor, Dreyer würdigt hiermit den klassischen Grusel - nicht ohne Grund pflegt sein Protagonist scheinbar - mit der eindeutigen Einordnung des gesitteten Bürgers - eine Vorliebe für diesen und reflektiert zugleich so dessen Sehnsüchte. Mit dieser Tradition bindet Dreyer die schaurige Romantik in sein Werk ein - traumhaft - und erinnert an eine längst vergessene Epoche. Ein wahres Wunder von Film. Unvergesslich gliedern sich dazu (technisch revolutionär) bewegliche Schatten, tanzen, faszinieren - kombiniert mit Plansequenzen, während die Beleuchtung (auch in Bezug auf die Schatten) irritiert und Dreyer besonderen Wert auf die räumliche Architektur legt, sein Werk wie den filmischen Raum in Frage stellt. Aus ihm heraus bricht, mit ihm spielt und die Möglichkeit ergreift. Vielleicht erinnert deswegen auch Dreyers Film in seiner filmischen Struktur einem legendenhaften Schauermärchen vergangener Tage. Initative in der Kameraführung, sie studiert wie analysiert und Dreyer, der psychologisiert den Geist seiner Definition. Denn auch seine Figuren stellt Dreyer in Frage, ob Wahn oder Wirklichkeit, zwischen Realismus (gibt es den überhaupt?) und Irrealis. Was sind sie? Nur unheimliche Schattenlichter?



Und dann das Mysterium höchstpersönlich: Der Vampir. Der emanzipierte, weibliche Vampir (im Grunde mit Verbindung zum märchenhaften Motiv der Hexe). Dreyer definiert ihn als Urangst und gespenstischen Blutsauger, zugleich setzt er sich aber aus bekannten Leitgedanken der Kollidierung vom Alten (dem Vampir) und dem Neuen (den Stadtbewohnern) zusammen, der auch als hintersinniges Element aufgefasst werden darf,  wie bei Tobe Hooper, wobei noch vielmehr bezüglich der Differenz von Stummfilm und Tonfilm in Bezug der Filmgeschichte. Andererseits symbolisiert der Vampir somit auch die Adelsherrschaft, sodass auch Dreyer direkten Kontext zu Wienes »Das Cabinett des Dr. Caligari« aufbaut. Das äußerst sich insofern, dass der Vampir selbst Gehilfen, die willenlos unter seinem Bann stehen, befehligt. Wie bei Wienes expressionistischen Zombie, im Bann seines Magiers. Dreyers ewiges Spiel mit Schein und Sein, wenn sich der Student konfrontiert sieht mit dem eigenen Tode in der Enge des Sarges - ein beklemmendes Motiv zwischen Leben und Tod wird essentiell für Dreyers Werk und dessen hypnotische Stimmung und profitable Wirksamkeit und gerade deshalb in seiner Aussage ambivalent. Denn letztlich spekuliert man nur: Was ist Wirklichkeit? Was ist Traum? Doch ich hoffe eines weiß man genau, dass Dreyers Werk auch weiterhin die Zeit bestehen wird. Ich wiederhole mich gern, auch wenn ich diese Form der pseudoepischen Schreibweise selbst missachte: Dreyer als Heiliger des Kinos, sein »Vamypr« ein morbides Wunder des Kinos. Wohlgemerkt: Inflationär gesagt.



8.5 / 10

Autor: Hoffman